Gutachten: Die Grenzöffnung und der Bundestag
22. September 2017Hat Angela Merkel mit der Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015 Rechte des Bundestages verletzt? Ein kurz vor der Bundestagswahl bekannt gewordenes wissenschaftliches Gutachten des Bundestages lässt das offen. Die Nachricht birgt Zündstoff - doch die Bundesregierung zeigt sich sehr gelassen.
Die Rechtsgrundlage der Grenzöffnung sei "unklar", berichtete am Freitag die Tageszeitung "Die Welt". Das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zu Merkels Asylpolitik "hat es in sich", heißt es weiter. Dabei lassen die juristischen Experten des Bundestages die Frage offen, ob die Abgeordneten der Aufnahme von hunderttausenden Flüchtlingen hätten zustimmen müssen.
Aber sie verweisen auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug. Dabei hatten die Karlsruher Richter es als Zuständigkeit der Parlamentarier bezeichnet, darüber zu entscheiden, "ob und bei welchem Anteil Nichtdeutscher an der Gesamtbevölkerung die Zuwanderung von Ausländern ins Bundesgebiet begrenzt wird". Der Wissenschaftliche Dienst mit seinen über 60 Mitarbeitern soll die Mitglieder des Bundestages mit Analysen und Gutachten unterstützen. Sie arbeiten im Hintergrund und sind strikter Neutralität verpflichtet.
Grundsatzfragen
Das elf Seiten umfassende Dokument, das auch der Deutschen Welle vorliegt, legt an einer Stelle die sogenannte Wesentlichkeitslehre aus, nach der der Gesetzgeber, also das Parlament, in der Pflicht steht, "wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen". Das lasse sich im konkreten Fall "allerdings nur schwer ermitteln". Es reiche jedenfalls nicht aus, "dass über eine Angelegenheit politischer Streit herrscht". Man könne aber auch die Auffassung vertreten, "dass die pauschale und massenhafte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden mit so erheblichen Folgen für das Gemeinwesen verbunden ist, dass sie die 'Wesentlichkeitsschwelle' überschreitet". Es heißt also: abwägen. Deutlicher wird das Gutachten bei der Kritik an "systemischen Defiziten" des geltenden Dublin-Systems zur Durchführung von Asylverfahren in der EU.
Im Mai und vor der Wahl
Bemerkenswert ist nicht nur der Zeitpunkt der jetzigen Veröffentlichung, zwei Tage vor der Bundestagswahl, sondern auch der Termin, an dem der Wissenschaftliche Dienst die Arbeiten abgeschlossen hatte. Das Dokument nennt den 24. Mai 2017.
Nach diesem Datum, am 26. Juli, traf der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Entscheidung, die weithin als Billigung der Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel bewertet wurde, Flüchtlinge aus anderen EU-Ländern in großer Zahl nach Deutschland zu lassen. Ein EU-Land, so die Richter, dürfe Asylbewerber aus humanitären Gründen freiwillig aufnehmen - auch wenn es für deren Anträge eigentlich gar nicht zuständig sei. Das widerspreche nicht dem weiter geltenden Grundsatz, dass die erste Aufnahme und Erfassung von Flüchtlingen Angelegenheit der Länder mit EU-Außengrenzen sei.
Regierung: Überhaupt kein Zweifel
Am Freitag zeigten sich auch Sprecher der Bundesregierung gelassen, übten jedoch Kritik an der Veröffentlichung.
Er weise, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert, den Vorwurf zurück, dass es bei der Aufnahme der Flüchtlinge "an demokratischer Legitimation gefehlt" habe. Zwischen Ende 2013 und Mitte 2016 hatte das Parlament über 40 Debatten zur Flüchtlingspolitik geführt, und es bestehe "überhaupt kein Zweifel, dass der Kurs der Bundesregierung von der überwiegenden Mehrheit" der Abgeordneten geteilt worden sei. Das Gutachten stelle eben nicht fest, dass es der Entscheidung Merkels an Rechtsgrundlage gefehlt habe. Der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Tobias Plate, wandte sich noch deutlicher gegen diese Lesart. Das Gutachten, meinte er, "bleibt überall von A bis Z im Vagen". So werde nicht so richtig klar, welche Position das Dokument einnehme und "ob es das überhaupt" tue. Er könne die Interpretation, es fehle an Parlaments-Beteiligung, "nicht so ganz nachvollziehen".
Spannend und politisch brisant ist diese Frage, weil gerade aus der rechtspopulistischen AfD und ihren Milieus zentral der Vorwurf gegen Merkel kommt, sie habe geltendes Recht gebrochen.