1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Terroranschläge werden nachgeahmt

1. September 2017

Eine neue Studie zeigt: je mehr Terror-Berichterstattung, desto mehr Terroranschläge. Was steckt dahinter? Eine rationale Planung der Terrororganisationen oder das bekannte psychologische Phänomen des Werther-Effekts?

Großbritannien Berichterstattung Terroranschläge von Barcelona
Bild: Getty Images/AFP/R. Bodman

Das Ergebnis der Studie ist eindeutig: Wir Journalisten haben mit unserer Berichterstattung die Macht, über das Leben von Menschen zu entscheiden. Genauer: Unsere Beiträge können töten. Und zwar dann, wenn es sich um Berichte über Terroranschläge handelt, mit Bildern der Opfer und der Täter, Spekulationen über Tatmotive und Hintergründe, emotionaler Wortwahl und all das am besten als Aufmacher auf der Titelseite (siehe Titelbild). 

Michael Jetter, Medienökonom an der University of Western Australia in Perth, erforscht seit Jahren die symbiotische Beziehung zwischen Medien und Terrorismus. Für seine kürzlich veröffentlichte Studie hat er sich mehr als 61.000 Terroranschläge in den Jahren von 1970 bis 2012 in über 200 Ländern angeschaut und mit dem Ausmaß der Berichterstattung in der US-amerikanischen "New York Times" in Verbindung gebracht. Das Ergebnis untermauert die Hypothese, dass die Zahl der Terrorattacken mit der intensiven medialen Inszenierung korreliert.

Jeder zusätzliche Beitrag über einen Terroranschlag erhöht die Zahl der Anschläge in der darauffolgenden Woche demnach um etwa 1,4. Kann das wirklich sein? Jetter machte den Test: "Man sieht an den Tagen, an denen über einen Hurrikan und nicht über Al Kaida berichtet wird, dass es in der darauffolgenden Woche weniger Anschläge gibt", sagt Jetter. Ein möglicher Grund ist einfache Psychologie.

Sterben wie Goethes "Werther"

Es könnte der sogenannte "Werther-Effekt" sein, der von einem Terroranschlag zum nächsten führt. Der Soziologe David Philips führte den Begriff in den 1970er Jahren ein, angelehnt an Goethes Roman "Die Leiden des jungen Werther". Darin nimmt sich der Protagonist aus unerfüllter Liebe das Leben und fand schon damals, in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, viele Nachahmer. "Der Werther-Effekt meint das Phänomen, dass die Zahl der Suizide in der Bevölkerung signifikant ansteigt, wenn in den Medien prominent und sensationsträchtig über einen Suizid berichtet wird", sagt Benedikt Till, Psychologe an der Medizinischen Universität in Wien.

1774 erschien Goethes "Die Leiden des jungen Werther". Das "Werther-Fieber" trieb viele Zeitgenossen in den Suizid.Bild: picture-alliance/akg-images

Das gilt vor allem dann, wenn der Suizid detailliert beschrieben wird. Oder die Tatmotive, die fast immer vereinfacht werden (Suizid wegen Scheidung oder Schulden), zum Gegenstand wilder Spekulationen werden. "All das birgt ziemlich viel Identifikationspotential", sagt Suizidforscher Till. Auch Fotos von Trauernden oder dem Suizidenten selbst könnten Nachahmer befeuern. Natürlich wird ein sensationsträchtiger Artikel bei Menschen, die sich in keiner Krise befinden, nicht zum Suizid führen. Für jemanden aber, der über Selbsttötung nachdenke und sich in einem "suizidalen Entwicklungsprozess" befinde, können Medienberichte das Zünglein an der Waage sein, sagt Till.

Beim Thema Suizid wissen Journalisten mittlerweile um ihre Verantwortung. Der Pressekodex gebietet unter Richtlinie 8.7. "Zurückhaltung" bei der Berichterstattung über Selbsttötung, Forscher haben Leitlinien entwickelt. Eine Richtlinie, an der entlang sich die Berichterstattung über Terroranschläge orientiert, gibt es bislang nicht. Mit fatalen Folgen.

Was sollen wir schreiben?

"Es gibt erste Untersuchungen, die darauf schließen lassen, dass auch Terroranschläge imitiert werden. Wenn in den Medien also intensiv über Terroranschläge oder auch Amokläufe berichtet wird, führt das zu weiteren Anschlägen", sagt Till. Wie beim Suizid auch, können Medienberichte für bereits radikalisierte, aber bisher ambivalente Menschen der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Tills US-amerikanische Forscherkollegen haben deshalb einenVerhaltenskodex für Journalisten entworfen, die über Massenmorde berichten. Deutschen Journalisten fehlt diese Art von Orientierungshilfe bisher. 

Doch nicht nur wie wir berichten ist im Fall von Terrorattacken ausschlaggebend, sondern auch wie viel. Das hat Michael Jetters Studie deutlich gemacht. "Wir müssen quantitativ weniger berichten, dann sehen wir auch weniger Anschläge", sagt der Medienökonom. Nicht nur weniger Bilder, weniger Leitartikel, weniger emotionale Worte, sondern insgesamt weniger Beiträge. Weil wir so weitere Anschläge verhindern können. Jetter hat noch eine weitere Theorie, weshalb mehr Terrorartikel zu mehr Terroranschlägen führen: "Es könnte auch eine ganz rationale Planung der Terrororganisationen sein, die den Moment der großen medialen Aufmerksamkeit nutzen und deshalb einfach noch ein paar Anschläge laufen lassen." 

Ob Werther-Effekt oder rationale Planung: Jeder Artikel über einen Anschlag bietet den Terroristen die Bühne, die sie brauchen. Auch wir Journalisten helfen ihnen dabei, Angst zu verbreiten und gleichzeitig zukünftige Attentäter zu rekrutieren. Wir machen uns mitschuldig an weiteren Anschlägen, bei denen Menschen sterben. 

 

Julia Vergin Teamleiterin in der Wissenschaftsredaktion mit besonderem Interesse für Psychologie und Gesundheit.
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen