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Politik

Ägypten: Die Angst ist überwunden

Sarah Salama
23. September 2019

Nach sechs Jahren Ruhe erschüttern Proteste zum ersten Mal das Regime von Abdel Fattah al-Sisi in Ägypten. Zum Widerstand hatte ein Unternehmer aus dem Exil aufgerufen. Jetzt wehrt sich das Regime mit allen Mitteln.

Ägypten Anti-Regierungsproteste in Kairo
Bild: Reuters/A. A. Dalsh

"Sag es, hab keine Angst, al-Sisi muss weg!", skandieren Demonstranten am Tahrirplatz in Kairo. An diesem symbolträchtigen Ort, an dem am "Tag des Zorns" im Januar 2011 der Arabische Frühling auch in Ägypten seinen Anfang nahm, scheint es nach Jahren der Herrschaft von Abdel Fattah al-Sisi wieder möglich zu sein, gegen die Regierung zu protestieren. Es waren solche Rufe, die im Jahr 2011 zum Sturz des langjährigen Machthabers Husni Mubarak geführt hatten.

Die Repressionen des al-Sisi-Regimes hatten politischen Widerstand bis jetzt verhindert. Al-Sisi war nach dem Putsch gegen den inzwischen verstorbenen Mohammed Mursi, den Vorsitzenden der Partei der Muslimbrüderschaft, mithilfe des Militärs an die Macht gekommen. Proteste und Kritik unterdrückte seine Regierung weitgehend. Tausende Muslimbrüder, Regierungskritiker, Blogger und Aktivisten wurden inhaftiert. Dass Sätze wie "Sisi, hau ab!" nun zu hören sind, ist ein Zeichen dafür, dass die Ägypter keine Angst mehr vor Repressionen haben. Denn eigentlich sind Kundgebungen ohne Genehmigung der Behörden im Ägypten al-Sisis verboten.

Mehrere hundert Menschen gehen auf die Straße, wissend, dass sie Gefängnisstrafen und Gewalt riskierenBild: Reuters/A. A. Dalsh

Die unabhängige ägyptische Internet-Nachrichtenseite Mada Masr berichtet von Demonstrationen am späten Freitagabend auf dem Tahrir-Platz in Kairo sowie in Alexandria, in Suez, in Mansoura und in Mahalla-al-Kubra im Nildelta. In Kairo hielten sich die Sicherheitskräfte zunächst zurück, setzten später aber Tränengas ein. Innerhalb weniger Minuten waren im Internet Videos zu sehen, die von den staatlichen Medien erst weitgehend ignoriert, dann aber als Störung von der Seite des Staatsfeinds, der Muslimbrüder, abgestempelt wurden.

Ägyptischer Insider in Spanien

Seit zwei Wochen bewegen die Äußerungen des ägyptischen Bauunternehmers und Schauspielers Mohammed Ali das Land. Er lebt in Spanien im selbstgewählten Exil und hat jetzt mehrere Videos veröffentlicht, in denen er dem Präsidenten und der Armee Korruption vorwirft. Als einer, der mehrere Jahre für den Präsidenten Aufträge erfüllt hat, spricht er über Interna und erzählt von den millionenschweren Immobiliengeschäften des Präsidenten.

Eine Ägypterin hält ein Plakat hoch: "Sag es, habe keine Angst, al-Sisi muss weg!"Bild: Reuters/M. Abd El Ghany

Ali trifft mit seinen Videos einen Nerv in einem Land, in dem jeder Dritte unter der Armutsgrenze lebt.  Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass die Regierung jede Form von Kritik oder Opposition massiv unterdrücke. Die staatliche Repression sei so stark wie nie zuvor während der vergangenen Jahrzehnte.

Der Politikwissenschaftler Khaled Dawoud, ebenfalls ein Oppositioneller, ist davon überzeugt, dass es vor allem die ökonomische Situation in Ägypten ist, die die Menschen dazu bringt, auf die Straße zu gehen. "Die Wirtschaftsreformen trafen die durchschnittlichen Ägypter hart; gleichzeitig sehen sie, dass ihre Anliegen nicht zu den Prioritäten des Präsidenten gehören. Er baut lieber am Suezkanal, verschwendet Billionen auf eine neue Hauptstadt und auf teure Urlaubsresorts. Davon wird die Mehrheit der Ägypter nicht profitieren", so Dawoud im DW-Gespräch.

Präsident al-Sisi wies die Vorwürfe als "Lügen und Verleumdungen" zurück. Seine Reaktion auf die Korruptionsvorwürfe entfachte die Wut der Menschen aber noch mehr: "Ich werde noch mehr Paläste bauen." Allein, dass der Präsident sich zu den Videos Alis äußerte, zeige, wie nervös die Regierung ist und wie sehr sie diese Protestwelle als Gefahr betrachte, so die Einschätzung von Stephan Roll von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Spannungen innerhalb der Elite?

Doch wer sind die Demonstranten? Stephan Roll sagt, es seien vor allem junge Menschen, die 2011 noch nicht auf die Straße gegangen waren. Dass die Menschen demonstrieren, obwohl sie mit Festnahmen oder Schusswaffengebrauch rechnen müssten, sei "das Symptom einer desaströsen politischen und wirtschaftlichen Situation". Interessanter ist für ihn aber die Frage, wer hinter Mohammed Ali steht, dem Mann, der die Menschen dazu brachte, zu protestieren.

Ägypten-Experte Stephan RollBild: Stiftung Wissenschaft und Politik

"Es gibt die Vermutung, dass es Spannungen innerhalb der Elite gibt. Die Videos machen nicht den Eindruck, als seien sie aus dem Affekt entstanden, sondern vielmehr, als ob sie länger geplant wurden. Ali könnte von einem Teil des Militärs unterstützt werden, der Mubarak nähergestanden hatte und von al-Sisi enttäuscht ist."

Ägyptens Regime ging gegen die Proteste wie gewohnt vor: mit brutaler Gewalt. In nur drei Tagen wurden mehrere hundert Menschen festgenommen. Die Polizeipräsenz im Land sei stark angestiegen, so Khaled Dawoud. Für ihn zählt jedoch, dass sich die Menschen auf die Straße wagten; al-Sisi hatte von Anfang an klar gemacht, dass es unter seiner Führung keine Proteste mehr geben würde.

Halten die Proteste an?

"An der Reaktion der ägyptischen Börse zeigt sich, wie fragil die Situation ist. Der Handel wurde komplett ausgesetzt. Dafür reicht es, wenn ein paar hundert Menschen auf die Straße gehen", erklärt Roll. Die Antwort der Regierung ist dem Experten zufolge bisher nicht nachhaltig. Komme es kommenden Freitag erneut zu Protesten, sehe es für das Regime nicht gut aus, so Roll. Doch die landesweiten Demonstrationen hätten gezeigt, dass man nicht mehr damit rechnen sollte, dass die erzwungene Ruhe dauerhaft hält.

"Die Welt schaut zu"

Ägyptens Präsident al-Sisi vor einem Jahr bei der UN-Generalversammlung, an der er auch jetzt wieder teilnimmt (Archivbild)Bild: Getty Images/AFP/B. R. Smith

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch rief die Führung in Ägypten auf, friedliche Proteste nicht zu verhindern. Die Behörden sollten alle Festgenommenen unverzüglich freilassen. Der stellvertretende Nahost- und Nordafrikadirektor von Human Rights Watch, Michael Page, sagte: "Die Behörden sollten erkennen, dass die Welt zusieht, und alle Schritte unternehmen, um eine Wiederholung früherer Gräuel zu verhindern."

Auch der Ägypten-Experte Stephan Roll appelliert an die internationale Gemeinschaft, die Situation richtig einzuordnen und zu erkennen, dass das System al-Sisi dauerhaft nicht funktionieren kann. Denn es fuße auf Repression, Korruption und Misswirtschaft.

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