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Ägypten im freien Fall

Volker Wagener29. März 2016

Ägyptens innere Ordnung zerfällt und das Land ist auf dem Weg in die Anarchie, meint der Islamwissenschaftler Michael Lüders im DW-Interview.

Ägypten Kairo Anschlag auf Israelische Touristen, 07.01.2016 (Foto: Ibrahim Ramadan / Anadolu Agency)
Bild: picture-alliance/AA/I. Ramadan

DW: Herr Lüders, wie einfach oder wie schwer ist es, in Ägypten ein Flugzeug zu entführen?

Michael Lüders: Wir kennen den konkreten Fall dieser Entführung nicht. Wir wissen nicht, wie der Entführer mit einer Waffe oder mit einem Sprengstoffgürtel an Bord gelangt ist. Aber im Falle der abgestürzten russischen Passagiermaschine, die von der Terrororganisation "Islamischer Staat" über dem Sinai zum Absturz gebracht wurde, wissen wir, dass offenbar Flughafenmitarbeiter bestochen worden sind. Auf diese Art und Weise wurde der Sprengstoff an Bord gebracht. Nüchtern gesehen muss man wohl sagen, dass die Korruption in Ägypten so weit verbreitet ist, dass sie auch vor den Sicherheitskräften nicht halt macht.

Aktuell sind IS-nahe Terrorgruppen vor allem auf dem Sinai aktiv. Droht die Gefahr, dass islamistischer Terror bald Einzug in die großen ägyptischen Städte hält?

Augenblicklich sieht es nicht danach aus. Die Militärmachthaber genießen die stillschweigende Unterstützung des Westens, denn Präsident al-Sisi gilt als verlässlicher Verbündeter. Er ist pro-westlich orientiert. Das hat zur Folge, dass seine repressive und letztendlich selbstzerstörerische Politik im Westen und auch in Berlin nicht auf nennenswerte Kritik trifft. Insoweit gibt es offenbar wenig Druck von außen. Darum ist es schwierig, auf die politische Entwicklung Einfluss zu nehmen. Das Land befindet sich im Grunde im freien Fall Richtung Chaos und Anarchie.

Auch wenn der aktuelle Entführungsfall offensichtlich keinen terroristischen Hintergrund hat, ist die Sicherheitslage in Ägypten labil. Was sind die Hauptgründe für die Erosion der inneren Ordnung?

Der Staatszerfall in Ägypten schreitet immer weiter voran. Die Sicherheitskräfte haben die Lage nicht mehr vollständig unter Kontrolle. Es gab ja das Verbot der Muslimbruderschaft als terroristische Vereinigung. Gleichzeitig gibt es Millionen von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Das schafft erheblichen sozialen und politischen Sprengsatz. Gleichzeitig ist die Regierung unfähig, eine Wirtschaftspolitik zu betreiben, die Arbeitsplätze schafft. Das ganze Land befindet sich also in einer prekären wirtschaftlichen und politischen Lage. Vor diesem Hintergrund sind natürlich der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Islamistische Gewalttäter können vom Sinai oder auch aus Libyen in Richtung Ägypten vorrücken. Dort herrscht ein sozialer Bodensatz, der Resonanz verheißt.

Islamwissenschaftler Michael LüdersBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Das ägyptische Regime tritt die Menschenrechte mit Füßen. Ist die westliche Unterstützung für Kairo noch zu rechtfertigen?

Realpolitisch gesehen muss man natürlich sagen, man muss sich mit jedem Regime arrangieren. Wir können uns ja keine Regierenden backen, die unseren Vorstellungen eher entsprechen. Aber mit Blick auf Ägypten muss man sagen, wenn wir zum Beispiel an den Besuch al-Sisis in Deutschland denken, Ende des vorigen Jahres, da ist ihm wirklich der rote Teppich ausgerollt worden. Es sind Wirtschaftsverträge in Milliardenhöhe unterzeichnet worden. Letztendlich verfolgt man in Berlin, Brüssel und anderswo gegenüber Ägypten die traditionelle Politik des Klientelismus. Das heißt, so lange ein Regime pro-westlich ist und die Sicherheitslage einigermaßen im Griff hat, hat es auch freie Hand nach innen. Es kann jedwede Form der Repression anwenden, ohne dass dies auf nennenswerten Widerstand oder Kritik stößt. Mindestens 40.000 Menschen sollen sich in Ägypten aufgrund von "Meinungsdelikten" im Gefängnis befinden. Menschen werden auf offener Straße entführt und verschwinden. Großes Aufsehen erregte kürzlich die Entführung und Ermordung eines italienischen Studenten. Das alles hat aber auch nur den Weg in die Medien gefunden, weil es ein Italiener war. Mit Ägyptern passiert Vergleichbares täglich.

Das erinnert ein wenig an den Zerfall des syrischen Staates. Droht eine Wiederholung dieses Szenarios?

Nein, man kann das nicht vergleichen, weil die innenpolitische Lage in Syrien eine andere ist. Syrien kennt viele ethnische und religiöse Gruppierungen. Ägypten ist homogen, neunzig Prozent sunnitischer Islam und zehn Prozent christliche Kopten. Es ist also ein eher homogener Staat, der aber keine soziale Gerechtigkeit kennt. Von etwa 100 Millionen Menschen leben rund die Hälfte unterhalb oder am Rande der Armutsgrenze. Das ist natürlich ein Riesen-Reservoir an unzufriedenen Menschen. Und es braucht dann nur wenig, um eine Revolte auszulösen. Repression und wirtschaftliche Stagnation sind ein sicheres Rezept für eine Explosion, die sich früher oder später ereignen dürfte.

Michael Lüders ist Publizist und Islamwissenschaftler. Er ist auch als Politik- und Wirtschaftsberater tätig.

Das Interview führte Volker Wagener.

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