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PolitikNahost

Ägypten: Streit um Wiederherstellung des "Jungfernhäutchens"

16. September 2021

Ein religiöses Rechtsgutachten erlaubt Frauen unter bestimmten Bedingungen die Wiederherstellung des Hymens. Nun wird heftig debattiert - über Frauenrechte und über vorehelichen Sex.

Dr. Cornelia Strunz mit Vulvamodell, Desert Flower Center Berlin
Das weibliche Geschlechtsteil sorgt in Ägypten für Kontroversen - unser Symbolbild zeigt das Modell einer Vulva aus dem Desert Flower Center BerlinBild: DW/M. Grundmann

Angenommen, eine junge Frau wurde vergewaltigt oder auch nur zu einer sexuellen Handlung "verführt": Darf sie dann eine körperliche "Korrektur" vornehmen, sprich, ihr Hymen wiederherstellen lassen? Ja, sagt Dr. Ahmed Mamdouh, Leiter der Scharia-Forschungsabteilung des Dar al-Ifta, der offiziell für islamische Rechtsgutachten zuständigen ägyptischen Fatwa-Behörde. Neben der al-Azhar-Universität ist diese Behörde die wichtigste islamische Institution im Lande.  

Ein solche junge Frau dürfe "ein neues Kapitel aufschlagen", erklärte Mamdouh unlängst in einer Live-Sendung auf Facebook. Mit anderen Worten: Sie darf einen operativen Eingriff vornehmen lassen, um ihr Hymen wiederherzustellen.

Die entsprechende Fatwa - so nennt man im Arabischen Rechtsdekrete oder Stellungnahmen führender islamischer Geistlicher - wurde bereits am 30. August erlassen. Sie ergänzt Mamdouhs in einer Studie aus dem Jahr 2015 publiziertes Urteil, in dem er sich gegen die Wiederherstellung des Hymens bei so genannten "promiskuitiven" Frauen ausgesprochen hatte - womit Frauen gemeint sind, die überhaupt willentlich vorehelichen Sex - insbesondere mit wechselnden Männern - gehabt haben. Diese Fatwa wiederum geht auf ein religiöses Gutachten eines weiteren Rechtsgelehrten, Scheich Ali Dschumaa, den bis 2013 amtierenden Großmufti Ägyptens, zurück.

Mamdouh nannte in seinem Gutachten aus dem Jahr 2015 zwar keine Beispiele für weitere explizite Einschränkungen oder Ausnahmen, wies aber darauf hin, dass es "einige Fälle" gebe, "in denen die Scharia die Reparatur des Jungfernhäutchens verbietet".

Kritik von Konservativen 

Längst ist allerdings auch in Ägypten eine Diskussion über Frauenrechte in Gang gekommen - seit vielen Jahren schon bringen Frauenrechtlerin regelmäßig die Diskriminierung und Unterdrückung von Frauen als Thema in die Öffentlichkeit, zumeist mit entsprechenden Gegenreaktionen von konservativer Seite. Auch Mamdouhs Fatwa lässt die Debatte erneut aufleben. Kaum hatte Mamdouh sein Verdikt auf Facebook publiziert, folgten dort die ersten Kommentare. Viele User - mehrheitlich, aber keineswegs ausschließlich Männer - äußerten sich kritisch: Die religiöse Erlaubnis für eine Wiederherstellung des Hymens könne außerehelichen Sex für Frauen attraktiver machen, so der Hauptkritikpunkt. Dadurch stünde ihnen vor der Heirat eine "schnelle Lösung" für das Vorspielen falscher Tatsachen (sexuelle Unberührtheit) zur Verfügung.

Jungfräulich in die Ehe gehen, das gilt noch in weiten Teilen der islamischen Welt als Ideal, so auch wie hier im Jemen Bild: Mohammed Huwais/AFP/Getty Images

"In der Diskussion halten die einen die Fatwa für richtig, während die anderen sie als unvereinbar mit der unbedingten Ehrlichkeit des Vollzugs der Ehe betrachten ", hat Habiba Abdelaal beobachtet. Die US-Ägypterin ist Forscherin am Tahrir Institute for Middle East Policy in Washington mit dem Schwerpunkt sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt in Ägypten.

Nach ägyptischem Recht ist prinzipiell allerdings weder die Durchführung einer solchen Operation noch deren Erhalt illegal. Die Preise in privaten und öffentlichen Kliniken für einen solchen Eingriff beginnen bei umgerechnet rund 1000 Euro. Allerdings gilt vielen Ägyptern - neben Muslimen durchaus auch Christen - ein intaktes Hymen immer noch als Ausdruck von Reinheit und Moral. 

Jungfräulichkeit und Familienehre

"In Ägypten ist die Familienehre immer noch eng mit der Vorstellung weiblicher Jungfräulichkeit verbunden", so Abdelaal. "Mütter verwenden nach wie vor viel Energie darauf, ihren Töchtern die Angst vor einem gerissenen Jungfernhäutchen zu vermitteln und sie vor allem zu warnen, was diese Membran gefährden könnte".

Dabei weisen Mediziner seit Jahren darauf hin, dass es sich beim Hymen nicht etwa um eine geschlossene Membran handelt, als vielmehr um einen Schleimhautsaum, dessen Intaktheit nicht zwangsläufig etwas mit Geschlechtsverkehr zu tun hat. 

Die an der Al-Azhar-Universität lehrende Theologin Amna Nosseir begrüßt die jüngste Fatwa: Würden Mädchen oder Frauen vergewaltigt oder zu vorehelichem Sex verleitet, nehme ihnen dies später oft jegliche Hoffnung. Insofern sei die derzeit noch übliche Skandalisierung schädlich, sagte Nosseir dem auf Nahost-Themen spezialisierten Online-Magazin Al-Monitor.

"Werden sie von ihren Familien oder der Gesellschaft gemieden, sind die Mädchen und Frauen ganz auf sich allein gestellt und haben keine Chance, ein normales Leben zu führen", meint Nosseir. "Die Operation kann ihnen eine zweite Chance geben, so dass sie Ehefrauen und Mütter werden können."

Kein Anspruch auf Unterhalt

Zusätzlich motiviert wird die Fatwa durch die wachsende Zahl nicht offiziell eingetragener Ehen. Geschiedene Frauen aus diesen Ehen haben keinen Anspruch auf Unterhalt und lassen deshalb häufig ihr Hymen wiederherstellen, um wieder heiraten zu können.

Uneins sind die Religionsgelehrten in Ägypten indessen darüber, ob eine Frau moralisch verpflichtet sei, ihren zukünftigen Ehemann über eine solche Operation zu informieren.

Einer in der Hotline der Dar-al-Ifta erteilten Auskunft zufolge müssen junge Frauen ihren zukünftigen Ehemann nicht über die Operation informieren, da dies einen Schatten auf die Ehe werfen könnte, so Al-Monitor. Andere Religionsgelehrte sind jedoch entgegengesetzter Ansicht: Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit seien Grundlage einer erfolgreichen Ehe, so ihr Argument.

Viele inoffizielle Fatwas

In Ägypten ist das weltliche vom religiösen Recht getrennt. Fatwas werden offiziell von der Dar al-Ifta-Behörde erlassen. Allerdings haben in der Vergangenheit viele so genannte "Satelliten-Scheichs", also Gelehrte ohne entsprechende offizielle Legitimation, unkontrolliert Fatwas veröffentlicht, oft auch zu den Themen Sexualität und Beziehungen zwischen den Geschlechtern.

Zwar werden solche inoffiziellen Urteile auf Social-Media-Plattformen oft eher spöttisch aufgenommen. Dennoch sorgen auch sie regelmäßig für Kontroversen.

Ägyptische Frauenrechtlerinnen bei einer Demonstration im Jahr 2011Bild: Filipo Monteforte/AFP/Getty Images

Die al-Azhar-Universität wiederum führt eine Kampagne gegen die Verbreitung nicht-offizieller Fatwas und hat das al-Azhar International Center for Electronic Fatwas eröffnet, das als Plattform für Fatwas legitimierter Geistlicher dienen soll.

Zudem veröffentlicht das Dar al-Ifta Fragen und Antworten zu offiziellen Fatwas auf seiner Website wie auch auf Twitter - und zwar auch in Englisch. Auf diese Weise will die Institution bei neuen Rechtsgutachten Transparenz und Orientierung auch für nicht-arabisch sprechende Muslime schaffen - wie etwa bei der Fatwa zur Wiederherstellung des Hymens.

Stigma und Scham überwinden

Zwar kann diese Fatwa als ein Teilerfolg auf dem Weg zur sexuellen Selbstbestimmung von Frauen gesehen werden. Sie zeigt aber auch, dass die Rechte von Frauen in Ägypten weiterhin ein viele Menschen bewegendes Thema mit vielen ungelösten Fragen bleibt - trotz eines bereits seit Jahrzehnten existierenden feministischen Engagements.


"Die bisherige Arbeit reicht nicht aus", sagt auch Habiba Abdelaal Tahrir vom Institute for Middle East Policy. "Es braucht klare und detaillierte Gesetze und Strategien, um ägyptische Frauen unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit zu schützen, mit nachhaltigen und integrativen Strategien."

Die gesamte ägyptische Gemeinschaft müsse für eine veränderte Wahrnehmung der Frauenrechte eintreten und mehr Unterstützung für Frauen bereitstellen, ist sie überzeugt: "Ich glaube, diese Fatwa ist ein guter Einstieg, um mehr Möglichkeiten für Frauen zu schaffen und ihnen den Weg zu den Operationen zu ebnen. Nur so lassen sich Stigma und Scham überwinden."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Das ewig missverstandene Jungfernhäutchen

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Dieser Artikel wurde am 17. September 2021 aktualisiert und um einige wissenschaftliche Termini erweitert. 

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.