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KonflikteÄgypten

Ägyptens heikler Balanceakt im Gaza-Konflikt

12. November 2023

Die ägyptische Regierung sitzt zwischen den Stühlen: Die Bevölkerung unterstützt die Menschen in Gaza, doch die Regierung fürchtet, dass palästinensische Kämpfer im Sinai die Sicherheit im Land gefährden könnten.

Pro-palästinensische Demonstration in Kairo
Bei pro-palästinensischen Demonstrationen wie hier in Kairo sind immer wieder auch Parolen gegen die ägyptische Regierung zu hörenBild: MOHAMED ABD EL GHANY/REUTERS

Der Konflikt zwischen Israel und der militanten Hamas im Gazastreifen zwingt das Nachbarland Ägypten zu einem schwierigen Drahtseilakt. Humanitäre Hilfe erreicht Gaza fast ausschließlich über Ägypten, doch wenn es um die Aufnahme vertriebener Palästinenser geht, ist das Land deutlich zurückhaltender.

"Die Haltung Kairos wird zunehmend durch die seit der Bodeninvasion [im Gazastreifen] alarmierend steigende Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung bestimmt, sowie durch den von der EU und den USA ausgehenden Druck, den Grenzübergang Rafah für Palästinenser zu öffnen, die die Grenze überqueren wollen", sagt Michelle Pace, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Londoner Denkfabrik Chatham Haus und Professorin an der Universität Roskilde in Dänemark.

Nur wenige Lastwagen mit Hilfsgütern können täglich den Grenzübergang bei Rafah passierenBild: Ahmed Gomaa/Xinhua/IMAGO

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat deutlich gemacht, dass der Grenzübergang bei Rafah - der einzige nach Gaza, der nicht von Israel kontrolliert wird - nicht für aus Gaza kommende Palästinenser geöffnet werden wird. "Ägypten erklärt hiermit klar und deutlich, dass es die Zwangsumsiedlung von Palästinensern auf ägyptisches Gebiet niemals akzeptieren wird", betonte Al-Sisi.

Seit dem Ausbruch des Konflikts durch den brutalen Terrorangriff der radikal-islamischen und vom Westen als Terrororganisation eingestuften Hamas, bei dem etwa 1200 Israelis getötet wurden, hat der Präsident diese Aussage immer wieder bekräftigt. "Ägypten kann sich nur zu gut an die Ereignisse im Jahr 1948 erinnern, als Palästinenser, die während der Nakba [Arabisch für "Katastrophe"], ihre Häuser und Dörfer verließen, nach dem Ende des Krieges nicht mehr zurückkehren durften", erläutert Pace. "Ägypten ist überzeugt, dass sich dieses Muster wiederholen könnte."

"Trotzdem haben die Zivilisten in Gaza ein Recht auf Asyl und nur sie können entscheiden, wie und wann sie dieses Recht ausüben wollen. Ägypten ist verpflichtet, Zivilisten ins Land zu lassen, wenn sie dies wünschen", hält Timothy E. Kaldas, stellvertretender Direktor des in Washington ansässigen Tahrir Institute for Middle East Policy, dagegen.

"Doch Israels Partner müssen eindeutig klarstellen, dass die Bewohner von Gaza nach Einstellung der Feindseligkeiten das Recht haben zurückzukehren, und Israels Führung muss gewarnt werden, dass es sich um ethnische Säuberungen handeln würde, wenn sie daran gehindert würden", fügt Kaldas hinzu.

Bedrohung für Ägyptens Sicherheit

Es gibt einen weiteren Grund, warum Ägypten keine Flüchtlinge aus Gaza ins Land lassen will. Militante Palästinenser von zivilen Flüchtlingen zu unterscheiden, wäre kaum möglich, meint Pace. "Ägypten befürchtet, dass militante Kämpfer versuchen könnten, Angriffe auf israelische Ziele von ägyptischem Boden aus zu starten, wenn es dschihadistischen palästinensischen Gruppen gelingt, logistische, ideologische und operative Verbindungen [zu Gruppen] im Sinai aufzubauen. Das würde zu israelischen Vergeltungsschlägen führen und die Beziehungen zwischen beiden Ländern beeinträchtigen", führt Pace weiter aus.

Während einer Pressekonferenz in Kairo brachte Al-Sisi genau diese Sorge zum Ausdruck. "Der Sinai würde zu einer Basis für gegen Israel gerichtete Terroreinsätze werden, und wir in Ägypten würden dafür die Verantwortung tragen. Der von uns [durch die Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Israel im Jahr 1979] geschaffene Frieden würde uns durch die Finger gleiten und gleichzeitig die Zwei-Staaten-Lösung gefährden."

Kenneth Roth war früher Geschäftsführer von Human Rights Watch und ist jetzt Gastprofessor an der Princeton University in den USA. Nach seiner Einschätzung hat Al-Sisi "große Sympathien für Israels Versuch, die Hamas zu zerstören, weil er selbst schreckliche Gewalt anwendete, um die Muslimbrüder zu zerschlagen, den friedlicheren Cousin der Hamas. Dazu zählt auch das Blutbad unter 817 Demonstranten auf dem Rabaa-Platz in Kairo im Jahr 2013."

Hartes Vorgehen gegen Demonstranten

Die Zeit seit dem Ausbruch des aktuellen Konflikts ist auch an der autoritären ägyptischen Regierung und ihrer Beziehung zum ägyptischen Volk nicht spurlos vorübergegangen. "Die Konfliktpunkte, die durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes, aber auch durch die autoritäre Führung entstehen, sind etwas in den Hintergrund gerückt", sagt Nathan Brown, Professor für Politikwissenschaft und internationale Angelegenheiten an der George Washington University und derzeit Fellow am Hamburg Institute for Advanced Study in Deutschland. "Die Aufmerksamkeit richtet sich jetzt stattdessen auf den Schutz der ägyptischen Landesgrenzen."

Al-Sisi ist ist diese Verlagerung sehr willkommen. In den anstehenden Präsidentschaftswahlen, die gemeinhin als nicht demokratisch eingeschätzt werden, wird er mit aller Wahrscheinlichkeit im Amt bestätigt werden.

Internationale Mittel, die als Gegenleistung für die Unterstützung im Gazastreifen in das Land fließen, könnten dabei helfen, die anhaltende Wirtschaftskrise Ägyptens zu überwinden. Seit März 2022 ist der Wert der Landeswährung um mehr als die Hälfte gefallen, Ägyptens Devisenreserven sind nahezu erschöpft. Auch die Tourismusindustrie, eine Hauptstütze der ägyptischen Wirtschaft, wird unter dem Konflikt im Gazastreifen leiden.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi unterstützte pro-palästinensische Proteste, griff aber hart gegen alle durch, die ihn kritisiertenBild: Ahmad Hassan/AFP/Getty Images

Doch Roth bezweifelt, dass die einigende Wirkung des Konflikts auf die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Regierung lange anhalten wird. "Wenn die öffentliche Meinung umschlägt von Sympathie für Israel nach dem schrecklichen Gemetzel der Hamas an israelischen Zivilisten zu Entsetzen über die weitaus größere Zahl palästinensischer Zivilisten, die jetzt durch das israelische Bombardement getötet werden, dann wird unweigerlich die Frage gestellt werden, warum die ägyptische Regierung weiterhin mit Israel zusammenarbeitet", sagt Roth zur DW.

Die ägyptische Regierung bereitet sich schon darauf vor, abweichende Meinungen im Keim zu ersticken. Als vergangene Woche auf von der Regierung genehmigten pro-palästinensischen Demonstrationen Forderungen nach Gerechtigkeit und Freiheit laut wurden, verhaftete die Polizei in Kairo und Alexandria etwa 70 Demonstranten. Laut einem kürzlich von Human Rights Watch veröffentlichten Bericht wurde 16 Demonstranten beschuldigt, sich einer "terroristischen Vereinigung angeschlossen" und "Terrorakte begangen" zu haben.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
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