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Politik

"Soforthilfe für Flüchtlinge nötig"

Marc Saha
10. Januar 2017

Tausende von Flüchtlingen sind entlang der Balkanroute gestrandet - mitten im Winter. Florian Westphal von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen berichtet von katastrophalen Zuständen vor Ort.

Griechenland Flüchtlingscamp Moria auf Lesbos
Kaum Schutz gegen den Winter: Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel LesbosBild: Getty Images/AFP

Eiseskälte bringt Flüchtlinge in Gefahr

01:49

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In der serbischen Hauptstadt Belgrad haben sich viele Flüchtlinge bei minus 20 Grad in leerstehende Hallen der Eisenbahn und des Zolls gerettet. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von rund 1.000 Menschen dort, andere Organisationen gehen von bis zu 2.000 aus. Und viele der rund 15.000 Flüchtlinge auf griechischen Inseln wie Lesbos oder Chios hausen bei eisigen Temperaturen immer noch in unbeheizten schneebedeckten Zelten. Mindestens drei Flüchtlinge haben den Frost nicht überlebt. An der türkisch-griechischen Grenze wurde die Leiche eines 20-jährigen Afghanen entdeckt, an der bulgarisch-türkischen Grenze sind zwei irakische Flüchtlinge erfroren.

Deutsche Welle: Herr Westphal, Sie sind Geschäftsführer der deutschen Sektion der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, Ihre Helfer sind auch in Südosteuropa im Einsatz - was wissen Sie über die Situation der Flüchtlinge in der Region?

Florian Westphal: Die Situation in Serbien, aber auch auf den griechischen Inseln ist wegen des Wetters enorm schwierig für die Menschen, die dort leben. In Serbien ist es so, dass von den 7.500 Menschen auf der Flucht, die sich dort befinden, nur etwas über 3.000 wirklich Platz gefunden haben in den Einrichtungen, die auch winterfest sind. Das bedeutet, dass zurzeit bis zu 2.000 Menschen in Belgrad in der Innenstadt in verlassenen Gebäuden schlafen. Und das bei Temperaturen, die nachts bis auf minus 20 Grad sinken. Selbst tagsüber ist es nicht wärmer als minus neun Grad. Und diese Menschen haben nur ganz eingeschränkt die Möglichkeit, sich gegen diese extreme Kälte zu schützen. Außerdem schränkt der serbische Staat die Möglichkeiten ein, diesen Menschen zu helfen, weil man sie zwingen will, in Camps zu gehen. Doch diese sind jetzt überfüllt.

Mobile medizinische Hilfe für gestrandete Flüchtlinge in BelgradBild: Marko Drobnjakovic/MSF

Nun fehlt den Menschen in diesen Camps ja nahezu alles, was man zum Leben braucht: Essen, Wasser, medizinische Versorgung, minimalste Hygiene - wie kann das sein?

Unsere Kollegen vor Ort berichten, dass die offiziellen Camps voll sind - und auch an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. Die Menschen hausen stattdessen in verlassenen Gebäuden. Wir versuchen immer wieder, mit tragbaren Heizkörpern für Wärme zu sorgen. Wir haben dort auch mobile Kliniken im Einsatz. Aber man sieht schon die ersten Auswirkungen: Die Menschen werden krank, weil sie unter diesen Bedingungen leben müssen. Der serbische Staat blockiert die humanitäre Hilfe zum größten Teil. Es werden nur noch Freiwillige toleriert, die Essen und Decken verteilen, was jede andere Hilfe wesentlich erschwert.

Was kann eine Hilfsorganisation wie Ärzte ohne Grenzen dann überhaupt vor Ort bewirken?

Wir versuchen natürlich, die betroffenen Menschen zu erreichen, und ihnen so gut es eben geht zu helfen. Das ist unter den gegebenen Bedingungen schwierig. Man muss leider davon ausgehen, dass auch weiter Menschen krank werden, und dass womöglich auch weiterhin Menschen sterben wegen dieser Kälte. Gleichzeitig versuchen wir aber auch, durch öffentlichen Druck darauf hinzuwirken, dass die serbische Regierung ihre Einstellung und ihre Politik hier ändert. Da sich ganz Ähnliches aber auch in Griechenland abspielt, sehen wir hier die Europäische Union als Ganzes in der Verantwortung. Es ist ja letztendlich so, dass die europäische Politik dafür verantwortlich ist, dass 15.000 Menschen seit Monaten auf den griechischen Inseln festsitzen. Weitere 7.000 Menschen sind in Serbien total blockiert. Sie werden nur hin und her geschoben, ohne dass sich jemand um sie kümmert. Stattdessen lässt man sie unter diesen Bedingungen hausen. Das ist wirklich inakzeptabel.

Weite Teile Griechenlands sind eingeschneit. Die Flüchtlinge auf den Inseln in der Ost-Ägäis haben so gut wie keinen Schutz gegen die Kälte. Ihre Lager sind, wie sich herausgestellt hat, nicht winterfest. Wer hat da versagt oder weggeschaut?  

Diese Lager sind extrem schlecht ausgestattet, die Menschen leben in Zelten. Es hat geschneit, auf Lesbos liegt die Temperatur bei nur zwei Grad, da kann man sich vorstellen, wie es ist, in einem Zelt zu leben. In erster Linie muss man natürlich schon die griechischen Behörden in die Verantwortung nehmen. Die sind direkt vor Ort - und dementsprechend auch zuständig. Aber die Europäische Union und alle Mitgliedsstaaten, inklusive Deutschland, sind hier ganz klar in der Mitverantwortung. Denn es ist ein Resultat ihrer Politik, dass es zu dieser Situation kommt. Das Europa, das sich immer gerne auf seine gemeinsamen menschlichen Werte beruft, muss dann auch gemeinsam die Verantwortung übernehmen, damit die, die am meisten Not leiden, nicht schutzlos sind und der Kälte ausgeliefert bleiben. Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsstaaten müssen jetzt handeln.  

Griechenland ist die EU-Außengrenze, nimmt viele Flüchtlinge auf - lässt der Rest der EU sein finanziell angeschlagenes Mitgliedsland alleine?
Das kann man durchaus sagen. Man könnte auch zu dem Schluss kommen, dass die EU recht zufrieden zu sein scheint, dass man die Frage so gelöst hat, indem man einfach 50.000 Menschen in Griechenland lässt und mal sieht, wie die Griechen mit der Herausforderung klarkommen. Man hat irgendwie nicht das Gefühl, dass ein wirklicher politischer Wille besteht, sei es in Brüssel oder in Berlin, um Griechenland bei dieser gemeinsamen Herausforderung wirklich unter die Arme zu greifen.

Welchen Beitrag könnte die Bundesregierung leisten?

Florian Westphal, "Ärzte ohne Grenzen"Bild: Ärzte ohne Grenzen/Barbara Sigge

Sie müsste sich erst einmal mit dieser humanitären Notlage befassen, die Menschen krank macht. Und das heißt: Sofort handeln, zusehen, dass die Menschen, sei es in Serbien oder in Griechenland, anständig untergebracht werden können, in winterfesten Unterkünften, dass sie medizinisch versorgt werden und dass ihnen Hilfe gebracht wird, statt dass Hilfe blockiert wird.

Florian Westphal ist Geschäftsführer der deutschen Sektion der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen.

Das Interview führte Marc Saha.

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