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PolitikAfrika

Der Krieg eskaliert, kein Ausweg in Sicht

Martina Schwikowski
5. November 2021

Der Bürgerkrieg in Äthiopien spitzt sich weiter zu. Derweil schmieden die Gegner von Premier Abiy eine Allianz für einen "sicheren Übergang". Ein nationaler Dialog als Ausweg aus der Krise scheint in weiter Ferne.

Äthiopien Spezialeinheiten der Armee und Milizen in der Region Afar
Äthiopische Spezialeinheiten geben sich Mitte Oktober siegessicherBild: Seyoum Getu/DW

"Die Lage in Äthiopien ist sehr bedrohlich, es ist wohl der gefährlichste Moment in diesem Land seit Jahrzehnten", sagt Murithi Mutiga, Mitarbeiter bei der International Crisis Group im kenianischen Nairobi. "Das Hauptproblem: Alle Seiten haben beschlossen, diesen Konflikt militärisch zu lösen." Der Analyst sieht die Tigrayischen Kräfte gestärkt. "Sie scheinen entschlossen, den entscheidenden Schritt zu machen, der zum Ende der Belagerung in Tigray oder zum Zusammenbruch der Regierung Abiy führen könnte", so Mutiga im DW-Interview.

Die Regierung von Ministerpräsident Abiy hat ihrerseits die Kriegsrhetorik verschärft. Angesichts eines möglichen Vormarschs auf Addis Abeba ruft sie zur allgemeinen Volksbewaffnung und zum Kampf aller Zivilisten auf. Beobachter sprechen von Busladungen zwangsrekrutierter Jugendlicher und von Razzien, bei denen in der Hauptstadt verbliebene Tigrayer verhaftet werden. Unterdessen ist der US-Sondergesandte Jeffrey Feltman in Addis Abeba eingetroffen. "Es ist wichtig, dass er, die Afrikanische Union und mögliche Nachbarn alle Parteien dazu bringen, den Gesprächen eine Chance zu geben", sagt Analyst Mutiga.

Die äthiopische Luftwaffe bombadierte die Regionalhauptstadt Mekele in TigrayBild: AP Photo/picture alliance

"Abiy kann ins Exil gehen"

Genau ein Jahr schon kämpfen die äthiopische Armee und Truppen aus Tigray, die aufseiten der Partei TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) stehen, um die Region im Norden des Landes. Beiden Seiten haben sich freiwillige Kämpfer angeschlossen. Die TPLF hat inzwischen Verstärkung von der OLA (Oromo-Befreiungsarmee) bekommen und meldet Gebietsgewinne im Vormarsch auf die Hauptstadt. Beide haben am Freitag eine Allianz mit sieben weiteren oppositionellen Gruppen verkündet - mit dem erklärten Ziel, die "schädlichen Effekte" der Abiy-Regierung "umzukehren" und einen "sicheren Übergang" im Land herbeizuführen. Premierminister Abiy Ahmed, 2019 als Versöhner am Horn von Afrika mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, verhängte am Dienstag den Ausnahmezustand. Die TPLF-Führer bezeichnet er als Terroristen, "Krebsgeschwür" oder "Unkraut". Ein Aufruf auf Facebook, die vorrückenden Kämpfer zu "begraben", wurde am Donnerstag von dem Unternehmen entfernt.

Lesen Sie den Kommentar: Der Vielvölkerstaat Äthiopien droht zu zerbrechen

Gibt es eine Chance auf Verhandlungen zwischen den Erzfeinden? Der norwegische Friedensforscher Kjetil Tronvoll hält das für unmöglich: "Es gibt keine Machtübernahme auf dem Verhandlungsweg. Wir können mit einem anhaltenden Konflikt rechnen", sagt er der DW. Die TPLF habe kein Interesse, die Macht in Addis Abeba mit politischen Mitteln zu übernehmen, sondern sie wolle Abiy stürzen und in den nächsten Wochen ein Übergangsabkommen schließen. Abiys politische Karriere sei vorbei. "Er kann fliehen und ins Exil gehen."

Experten gehen nicht von einer schnellen Lösung für einen Frieden in Äthiopien ausBild: Ben Curtis/AP Photo/picture alliance

Der Wille zum Sieg

Für die Truppen der Regionalregierung Tigray sei dieser Kampf keine militärische Herausforderung, meint Tronvoll: Sie könnten Addis Abeba binnen einer Woche erreichen, schätzt der Wissenschaftler. Die Erfolge der Soldaten aus Tigray erklärt Tronvoll so: Abiy habe im Umgang mit der lange von Tigrern dominierten nationalen Armee einen Fehler gemacht. "Er hat 17.000 Soldaten und Offiziere in der Befehlskette der Regierungsarmee verhaftet, als er an die Macht kam. Er hat seine eigene Armee entmachtet, er als Oromo konnte ihnen nicht vertrauen." Heute gebe es viele Unstimmigkeiten innerhalb der Kampfeinheiten.

Die stärkste Kampfmoral, den Willen zum Sieg, hätten die Truppen aus Tigray, betont Tronvoll. Die Tigrayischen Streitkräfte verfügten über eine hohe Disziplin, seien "gebildete Leute, keine Bauern wie früher im Widerstandskrieg. Ärzte und Hochschulabsolventen, die an ihren Kurs glauben." Außerdem gehe es für sie um das Überleben ihrer Familien. Angesichts dieser Gemengelage kämen die internationalen Bemühungen zu spät - und vor allem: "Die meisten Diplomaten kennen das komplexe Äthiopien, das Volk, die Stimmungen in den Parteien nicht."

Diplomatie hat versagt

Bayisa Wak-Woya, ehemaliger UN-Mitarbeiter aus Äthiopien, spricht ebenfalls von einem Rückschlag in der Diplomatie: Viele würden nicht die unterschiedlichen Traditionen und Kulturen der Nation kennen und deshalb mit ihren Bemühungen um Vermittlung scheitern, sagt er. "Es ist sehr schwer, zu erfahren, was an der Kriegsfront in Äthiopien geschieht. Transparenz ist ein seltenes Gut in diesem Land." Eines sei jedoch sicher: Bürgerkriege seien etwas anderes als Angriffskriege. Mit Staatshoheit könne hier nicht argumentiert werden: "Was für die einen Menschenrechtsverletzungen sind, ist für die anderen die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung." So werde ein gesichtswahrender Ausstieg aus den Kampfhandlungen für alle Kriegsparteien erschwert.

Hunger und Vertreibung verstärken die katastrophale humanitäre Situation in TigrayBild: private

Der Weg nach vorn: "Externe Mächte sollten sich zurückhalten, Partei zu ergreifen und Druck auf die Konfliktparteien auszuüben. Bisher haben die diplomatischen Gespräche keine Früchte getragen, weil die internationale Gemeinschaft begann, Parteien zu verurteilen. Kein guter Anfang", bilanziert Wak-Woya. Doch er habe noch Hoffnung, dass die Region befriedet werden könne.

Innere Balance ist aus den Fugen geraten

Es gibt erhebliche Bemühungen, um internationale Verhandlungen vorzubereiten - das wird aus Expertenkreisen bestätigt. Doch hier sei Diskretion geboten, um mögliche Erfolge nicht zu gefährden. Um die überaus komplexe Lage zu durchdringen, würden Wissenschaftler zu Beratungen hinzugezogen. Seit Jahrzehnten sei die innere Balance des unausgereiften politischen Systems in Äthiopien aus den Fugen geraten, sagt Wolbert Smidt, Ethnohistoriker und Äthiopien-Spezialist, im DW-Interview.

Der Ursprung liege in der Zeit, als sich Äthiopien im späten 19. Jahrhundert durch eine massive Expansion in Nachbargebiete, die sprachlich, ethnisch und kulturell völlig anders organisiert waren, ausdehnte. Das heutige Konglomerat von Regionalstaaten stehe sich politisch nicht gleichwertig gegenüber, die Unterschiede in Bildung, Wohlstand, Machtzugang und Anerkennung seien extrem unterschiedlich.

Realistische Angebote an vorrückende Truppen machen

Ein Symptom dieser lange währenden Marginalisierungen ist jetzt der Bürgerkrieg. "Gespräche müssen klären, was es überhaupt noch für Gemeinsamkeiten gibt", sagt Smidt. Der Staat habe seine autokratische Tendenz behalten. Aber es müsse jetzt zunächst Klarheit darüber geben, wie sich die militärische Lage darstellt, anstatt Reformen mit brachialer Gewalt durchzusetzen. Afrikanische Partner seien der Auffassung, Äthiopien zerreiße sich selbst aufgrund innerer Widersprüche, sagt Smidt. "Wir müssen jetzt realistische Angebote an die vorrückenden Truppen machen."

Noch kein Frieden: Ärzte in Tigray protestieren gegen den blockierten Zugang zu MedikamentenBild: Million Haileselassie /DW

Smidt sieht einen nationalen Dialog mit allen ethnischen und politisch-regionalen Gruppen als einzige Lösung für Frieden. Doch erst müssten die Waffen schweigen. "Keine Reform, egal wie idealistisch, kann funktionieren, wenn nicht Akteure von zentraler Bedeutung integriert werden." Dieser politische Prozess sei schon vor Jahren zusammengebrochen. "Das heißt, wir haben kurzfristig nur die Option, den Krieg zu stoppen, damit eine Übergangsregierung etabliert werden kann. Auf dieser Grundlage kann erst ein längerer ziviler Prozess geschaffen werden."

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