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Politik

Äthiopien: Gewalt bedroht Reformkurs

Maria Gerth-Niculescu
29. Juni 2019

Ethnische Konflikte, Millionen Binnenflüchtlinge und ein Putschversuch: Der Vielvölkerstaat Äthiopien droht in Gewalt zu versinken. Ist der Reformkurs von Premierminister Abiy Ahmed am Ende?

Äthiopien | Intern Vertriebene
Ein Camp für Binnenflüchtlinge in der Gedeo-Zone in SüdäthiopienBild: DW/S. Wegayehu

Als Isso nach Monaten wieder zurück in seinen Heimatort Cherqo kam, war sein Haus zerstört. Wie Tausende andere Gedeo, eine der äthiopischen Ethnien im Süden des Landes, musste er letztes Jahr seine Heimat verlassen. Damals plünderten ethnische Oromo Häuser und töteten hunderte Menschen entlang der Grenze zwischen den Bundesstaaten Oromia und der Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker.

"Früher war unser Leben gut. Wir hatten Tiere und unser Haus war möbliert. Wir tranken Milch und aßen Hühner- und Hammelfleisch", erzählt der Vater von drei Kindern. "Jetzt haben wir alles verloren." Issos Bauernhof ist ein paar Kilometer entfernt von Cherqo, in der Nähe der Grenze zur Nachbarregion. Bis heute traut er sich nicht, zu seinen Feldern zurückzukehren.

Isso Gebabo vor seinem zerstörten Haus in CherqoBild: DW/M. Gerth-Niculescu

Auslöser für die Gewalt waren Konflikte um Land, angeheizt durch die wachsende Bevölkerungszahl und zunehmende Arbeitslosigkeit. Oromo-Milizen griffen Gedeo-Bauern an mit der Begründung, diese hätten kein Anrecht auf landwirtschaftliche Flächen in West- und Ost-Guji, zwei Verwaltungszonen in der Region Oromia.

 

Liberalisierung reißt alte Konflikte wieder auf

Doch die Konflikte zwischen Gedeo und Oromo sind nur ein Beispiel für viele Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die Äthiopien aktuell erschüttern. Insgesamt haben Spannungen zwischen den über 80 Ethnien im Land zugenommen, seit Abiy Ahmed im April 2018 Premierminister wurde. Den Vereinten Nationen zufolge sind inzwischen drei Millionen Menschen innerhalb Äthiopiens auf der Flucht, die höchste Zahl von Binnenflüchtlingen weltweit.

Die Gewalt ist der größte Makel in der bisherigen Bilanz des Premiers, der sich als offener und reformwilliger Regierungschef positioniert hat und deshalb weltweit als Hoffnungsträger gefeiert wurde. In den Wochen nach seinem Amtsantritt ließ er hunderte politische Gefangene befreien, hob ein landesweites Parteienverbot auf und schloss Frieden mit Eritrea. Doch ausgerechnet die liberale Haltung des Premiers, der den Regionen vor allem in Fragen der Sicherheit weitgehende Autonomie gewährt hat, schwemmt nun historische Feindseligkeiten zurück an die Oberfläche. Plötzlich scheinen Grenzverläufe zwischen den Regionen und Fragen der politischen Repräsentation wieder zur Debatte zu stehen.

Dazu kommt, dass sich Abiy Ahmed, ein Oromo, mit der Riege der alten Machthaber angelegt hat. So wurden seit seinem Amtsantritt Dutzende von ehemaligen Tigrinya-Führungskräften wegen Korruption verurteilt. Aktionen wie diese provozieren Widerstand gegen Abiys Reformkurs.

"Sehr kritischer Moment" für Äthiopien

Die politische Lage in Äthiopien ist brenzlig, das zeigen auch die Ereignisse vom vergangenen Wochenende. Bei einem mutmaßlichen Putschversuch in der Region Amhara kamen Regierungsberichten zufolge Dutzende Menschen ums Leben, darunter der Präsident der Region, Ambachew Mekonnen, und der Chef der äthiopischen Streitkräfte, Seare Mekonnen. Als Reaktion ließ die Regierung in Addis Abeba mehrere Mitglieder einer nationalistischen Partei in Amhara festnehmen.

Äthiopiens Premierminister Abiy bei der Trauerfeier für General Seare Mekonnen am DienstagBild: picture-alliance/AP Photo/M. Ayene

Felix Horne, langjähriger Äthiopien-Experte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), beschreibt im Gespräch mit der DW, wie die Konflikte das demokratische Reformprojekt Abiys gefährden: "Es ist ein sehr kritischer Moment. Gesetz und Ordnung sind zusammengebrochen und in vielen Teilen des Landes herrscht Unsicherheit. Darauf reagiert der Staat fast mit Indifferenz." In diesem Licht seien auch die Ereignisse am Wochenende in Amhara zu betrachten. Viele Äthiopier seien unzufrieden und blickten nervös in die Zukunft.

Dazu sei die destabilisierende Rolle der ethnischen Milizen nicht zu unterschätzen: "Der Aufstieg von lokalen bewaffneten Gruppen ist eine der Konsequenzen aus dieser Unsicherheit." Diese seien in fast allen Regionen aktiv, gleichzeitig würden massiv Waffen unters Volk gebracht. "Das ist eine toxische Kombination. Diesem Problem bekommt nicht genug Aufmerksamkeit", so Horne.

Behörden erklären Flüchtlingskrise für beendet

Ein oft gehörter Kritikpunkt innerhalb der Bevölkerung ist die Straffreiheit, die die Regierung vielen Milizen zugesichert hat. So wurden in West-Guji lediglich knapp über 200 Menschen für die Gewalttaten verhaftet, die Berichten zufolge rund eine halbe Million Menschen aus dieser Region in die Flucht getrieben haben. Viele werten das als Niederlage der Justiz.

Die Regierung steht unter großem Druck, auch weil für 2020 Parlamentswahlen angesetzt sind, bei denen sich Premier Abiy gerne die demokratische Legitimation für seinen Reformkurs einholen würde. Hunderttausende Flüchtlinge wurden deshalb im Mai wieder in ihre Heimatorte zurückgebracht. Den Behörden zufolge gibt es inzwischen gar keine Flüchtlinge mehr, Friede sei eingekehrt in Oromia. "Wenn die Binnenflüchtlinge wieder nach Hause kommen, bringen wir sie mit den Oromos zusammen, damit sie miteinander diskutieren", sagt etwa Aberra Buno, Chef der Verwaltung in West-Guji. "In unserer Zone gibt es keine wirklichen Sicherheitsprobleme mehr", sagt er.

Aberra Bruno leitet die Verwaltung von West-GujiBild: DW/M. Gerth-Niculescu

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Viele Gedeo-Heimkehrer fürchten sich vor neuen Angriffen und erklären, nicht freiwillig wieder nach West-Guji gezogen zu sein. Ihre Flüchtlingslager in der Gedeo-Zone wurden abgebaut und die humanitäre Hilfe eingestellt, sodass die Menschen kaum eine andere Wahl hatten, als die Lager zu verlassen. Für die Flüchtlinge aus Ost-Guji ist die Lage noch prekärer: Auch ihnen wurde vor zwei Monaten die staatliche Lebensmittelhilfe abgedreht - doch eine Rückführungsaktion in ihre Heimat ist sogar den Behörden zu heikel. Erst Ende Mai wurden in Ost-Guji erneut Menschen getötet. Die Versuche der Regierung, die Flüchtlingskrise per Dekret zu beenden - für viele Betroffene vergrößern sie das Leid zusätzlich.

Zukunft ungewiss

Dingete ist mit ihren vier Kindern vor ein paar Wochen wieder in ihr Haus in West-Guji zurückgekehrt. An Alltag sei für sie aber nicht zu denken. "Wir sind froh, hier zu sein. Aber ich mache mir Sorgen", sagt Dingete. Sie habe gehört, dass die gleichen bewaffneten Gruppen, die ihren Heimatort vor Monaten angegriffen hatten, immer noch frei herumliefen. "Mein Land ist weit weg von hier, darum habe ich Angst, dort hinzugehen", sagt die junge Frau mit leiser Stimme.

Dingete Merisa ist zurückgekehrt, doch sicher fühlt sie sich nicht Bild: DW/M. Gerth-Niculescu

In der grünen Hochebene von West-Guji leben die meisten Menschen vom Anbau von Kaffee, Mais oder Zierbananen. Ohne Zugang zu ihren Feldern haben die ehemaligen Flüchtlinge deshalb keine Lebensgrundlage. Und selbst wenn sie in ihrer Heimat wieder sicher wären: Den meisten fehlt Kapital, um ihr ehemaliges Land wieder instand zu setzen. Den lokalen Behörden zufolge soll bald Saatgut verteilt werden. Wann genau, das weiß niemand.

Klar hingegen ist: Das Drama der äthiopischen Binnenflüchtlinge hat die ambitionierte Reformpolitik des jungen Premiers Abiy schon jetzt schwer beschädigt. Ob Abiy seinen Weg der politischen Liberalisierung fortsetzen kann, bleibt abzuwarten.

Mitarbeit: Shewangizau Wegayehu

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