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Die Lust am Leiden

3. September 2018

230 Kilometer, 5500 Höhenmeter - und das im Dauerregen. Der Ötztaler Radmarathon ist das ultimative Ziel für Amateur-Radsportler. Aber warum eigentlich? DW-Reporter Joscha Weber hat auf dem Rad eine Antwort gesucht.

Fotos Ötztaler Radmarathon
Schier unendliche Qual: Das Timmelsjoch ist eine 29 Kilometer lange WillensprüfungBild: DW/A. Küppers

Die Menschen sind bequem geworden. Den Rasen mäht ein Roboter, das Wohnzimmer saugt ebenfalls einer, manche können schon Fenster putzen, die Nachrichten lässt man sich vom Sprachassistenten vorlesen, das Auto parkt selbstständig ein und schon bald fährt es sowieso ganz von allein. Und was tut der Mensch? Nur den kleinen digitalen Helferlein bei ihrem Wirken zuzuschauen, reicht ihm jedenfalls nicht. Der Mensch braucht Herausforderung. Wenn ihm nahezu alles abgenommen wird, sucht er sich neue Ziele. Zum Beispiel eine gigantische Bergetappe auf dem Rad.

Was um Himmels Willen tun wir hier?

Deswegen stehen sie zu Tausenden hier morgens um kurz vor sechs Uhr im kleinen Bergort Sölden. In einem schmalen Tal mitten in den Tiroler Alpen herrscht hektische Betriebsamkeit. Ein Meer aus Rädern strömt aus allen Gassen auf die Hauptstraße, alle drängeln Richtung Startblock. Man trägt bunte Regenjacken, lange Hosen und Handschuhe, es ist kalt. Mitten in dieser wuselnden Menge stehe auch ich und friere, wie alle hier. Der Gedanke an das vor uns liegende ist furchteinflößend: vier Alpenpässe, 230 Kilometer und 5500 Höhenmeter sind eine sehr große Herausforderung für Nicht-Radprofis, das Ganze bei Kälte und angekündigtem Dauerregen. Eigentlich eine ziemlich dumme Idee. Aber von der lässt sich niemand hier abbringen.

4112 Starter wagten den "Ötzi", der der Königsetappe der Tour de France entsprichtBild: Ötztal Tourismus

4112 Frauen und Männer aus 36 Nationen starten beim 38. Ötztaler Radmarathon, dem Klassiker der Radszene. Was für den Radprofi der Start bei der Tour de France, ist für den Hobbyradsportler die Teilnahme am "Ötzi". Ihn zu finishen gleicht dem Ritterschlag und bringt Respekt bei Vereins- und Arbeitskollegen. Aber bis dahin liegt viel Arbeit vor einem. Nach einer anfänglichen Abfahrt durch das von steilen Felsen eingerahmte Ötztal biegt die Straße rechts weg und führt in den ersten Anstieg: die Passstraße zum 2017 Meter hohen Kühtaisattel. Zeit, die wärmende Jacke auszuziehen, denke ich, bleibe aber in beiden Ärmeln hängen, verliere die Kontrolle über mein Rad und lande unsanft auf dem Asphalt. Na, das geht ja gut los, denke ich mir, schwinge mich schnell wieder auf mein Rad und hoffe, dass nicht alle meinen Anfängerfehler gesehen haben. Die Schaltung rattert, der Oberschenkel schmerzt, weiter geht's, hilft ja nichts.

Weniger später versinken wir im Nebel, man sieht kaum noch den Vordermann. Eine dichte Wand aus feuchter, kalter Luft umgibt uns und kratzt beim Luftholen in der Lunge. Die Straße wird nun richtig steil, bis zu 18 Prozent Steigung zeigt der Tacho an. Alle keuchen. Plötzlich stehen zwei Kühe auf der Fahrbahn und schauen uns an. Sie scheinen sich zu fragen, was um Himmels Willen wir hier tun. Gute Frage.

Suchtfaktor Ötzi

Renndirektor Oliver Schwarz erhält jährlich 18.000 Bewerbungen auf gut 4000 Startplätze beim "Ötzi"Bild: DW/A. Küppers

Am Vorabend habe ich sie dem Renndirektor gestellt. "Ganz einfach: Die Strecke ist wunderschön und man erlebt einen tollen Tag auf dem Rad. Die meisten Starter genießen es", sagt Oliver Schwarz, ein großgewachsener Mann mit grauem Haar, Brille und kräftigem Händedruck. Er ist das Rennen selbst schon gefahren und natürlich muss er so etwas sagen, er leitet auch die Tourismus-Gesellschaft des Ötztals. Der Radmarathon bringt ein Wochenende lang Tausende Menschen in die Region und somit reichlich Einnahmen. Doch in die euphorischen Schilderungen von Oliver Schwarz mischen sich auch nachdenkliche Töne: "Es gibt inzwischen viele, die wollen immer schneller sein: unter zehn, neun, acht Stunden fahren. Die Leute wollen sich selbst und der eigenen Community etwas beweisen, dem eigenen Hobby damit einen Sinn geben. Bei manch einem leidet darunter die Familie, alles wird auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Der Ötzi hat einen Suchtfaktor."

Auf der rasenden Abfahrt vom Kühtai hinab nach Innsbruck wird der Regen stärker, die Sicht noch schlechter, die Straße rutschiger. Meine Arme zittern vor Kälte, den Händen schwindet die Kraft zum Bremsen. Ein Ritt auf der Rasierklinge. Was soll daran süchtig machen? Der Blick geht in verquollene Gesichter, die Gischt des Vordermanns prasselt mir unaufhörlich entgegen, während wir mit dem Brennerpass den zweiten Anstieg angehen. Und irgendwie fühlt sich das gut an. Im Anstieg wird mir langsam wieder warm, die Beine kurbeln wie von alleine. Radfahren ist an sich ein sehr banaler Vorgang: treten, treten und nochmals treten. In einer durch und durch motorisierten Welt etwas aus eigener Muskelkraft zu bewegen, verschafft ein erhabenes Gefühl des Stolzes. Ich bin "im Flow".

Der "Flow" - und seine Flüchtigkeit

Vom Hochgefühl bis zu Beinkrämpfen waren es nur wenige Kilometer für DW-Reporter Joscha Weber Bild: DW/A. Küppers

Wie flüchtig dieses Gefühl ist, zeigt sich einige Kilometer später. Inzwischen in Italien angekommen, führt die Strecke über den Jaufenpass ins Passeiertal, das allerdings nur ganz kurz Erholung schenkt, denn sofort steigt die Strecke wieder an. Das gefürchtete Timmelsjoch wartet zum großen Finale. Und dort spielen sich sportliche Dramen ab. Austrainierte Sportler, die mich zuvor noch mit flüssigem Tritt überholt haben, stehen ausgepumpt am Straßenrand und japsen nach Luft. Manche schieben, andere steigen völlig erschöpft oder unterkühlt in eines der Begleitfahrzeuge. Fast 600 Starter werden es am Ende nicht ins Ziel schaffen.

Kein Wunder, denn dieser Berg nimmt überhaupt kein Ende: Fast 30 Kilometer lang steigt die Strecke an, selbst mit guter Kondition dauert der Anstieg zwei Stunden. Ein Krampf macht sich in meinem rechten Oberschenkel breit, ein stechender Schmerz, der sich nur durch den Wechsel in den Wiegetritt irgendwie ertragen lässt. Und immer wieder schießt mir die Sinnfrage durch den Kopf: Warum? Ja, warum tut man sich das an? Der Rücken schmerzt, die Beine wollen nicht mehr, nur der Kopf sagt: weiter. Die Gesichter um mich herum sagen mir: Ich bin nicht allein mit diesem Gefühl. Irgendwann taucht im dichten Nebel die 2509 Meter hoch gelegene Passhöhe auf, die Schinderei hat ein Ende. Die Abfahrt hinab ins Ziel ist trotz Nässe und Kälte schon fast ein Genuss. Nach 8:31 Stunden rolle ich über den Zielstrich.

Eigentlich ist die Antwort simpel…

Sie wollte einfach nicht aufgeben: Dörte Malten-Stecker kämpfte sich nach gut 12 Stunden ins ZielBild: DW/J. Weber

Zu diesem Zeitpunkt ist Dörte Malten-Stecker noch nicht einmal am letzten Anstieg angelangt. Die 54-Jährige hat auf der ersten Abfahrt einen Platten, muss lange auf Unterstützung beim Schlauchwechsel warten. Eine Stunde steht sie dort im Regen und fährt dennoch nach erfolgreicher Reparatur weiter. Es wird ein Kampf mit dem Zeitlimit. Der Besenwagen fährt direkt hinter ihr den Brenner hoch, nur wenige Minuten vor Schluss des Kontrollpunktes schafft sie es über die Passhöhe. „Ich wollte nicht in den Besenwagen", sagt sie später, „man muss bei solchem Wetter schon eine echte Kämpfernatur sein, sonst kommt man nicht durch."

Dörte Malten-Stecker kämpft sich durch. Nach rund zwölfeinhalb Stunden erreicht sie erschöpft das Ziel und bekommt dort sofort eine wärmende Rettungsdecke gereicht. Sie zittert und die Stimme ist etwas brüchig von der Kälte, aber die Frau strahlt. "Das ist eine Leidenschaft für mich. Solche Berge zu bewältigen macht Spaß", sagt sie allen Ernstes, während von ihrem Helm noch der Regen tropft. Die Frage nach dem Warum beantwortet sie in erfrischender Einfachheit und Klarheit: "Es ist ein tolles Gefühl, das geschafft zu haben." 

So einfach ist das.

 

Mitarbeit: Andrea Küppers

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