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Özdemir: "Mini-Pakistan" in der Türkei

29. Juli 2015

Der Bundesvorsitzende der Grünen erhebt schwere Vorwürfe gegen Ankara: Er sehe ein Land, das ohne Not "ins Chaos gestürzt wird". Aber die Türkei hat die Rückendeckung der USA.

Grünen-Chef Cem Özdemir (Archivbild: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

In der deutschen Politik wächst der Widerstand gegen die politisch-militärische Entwicklung im NATO-Partnerstaat Türkei. Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir (Artikelbild) kritisierte die Amtsführung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan scharf: "Wir können nicht wegschauen, wenn ein Land, das bis gestern noch in die EU wollte, sich unter Erdogan in ein Mini-Pakistan mit einem autoritären Herrscher direkt an der europäischen Grenze verwandelt", sagte Özdemir der "Passauer Neuen Presse".

Der Politiker, der 1994 zu den ersten Bundestagsabgeordneten mit türkischen Eltern zählte, zeigt sich besorgt, dass die Türkei ohne Not "ins Chaos gestürzt wird". Zugleich versuche Ankara nach außen ein falsches Bild abzugeben. Das jetzige Vorgehen gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), welche Erdogan bisher weitgehend widerstandslos habe gewähren lassen, sei eher Fassade: "Damit sollen wir im Westen getäuscht werden", glaubt Özdemir. In Wahrheit würden kaum IS-Stellungen angegriffen und vergleichsweise wenige IS-Anhänger in der Türkei verhaftet.

Dagegen hat Ankara den militärischen Kampf gegen die Kurden - die ihrerseits den IS eindämmen - noch einmal deutlich ausgeweitet. Nach der beiderseitig aufgekündigten Waffenruhe mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) griff die türkische Luftwaffe jetzt auch auf eigenem Territorium, im Südosten, kurdische Rebellen an. Das ist eine neue Stufe der Eskalation, zumal solche Bombardements in Verruf stehen, seit bei einem Luftangriff im Dezember 2011 irrtümlich 34 Zivilisten getötet worden waren.

"Eindeutig Selbstverteidigung"

Im Norden des Iraks geht die Türkei schon seit einigen Tagen aus der Luft gegen mutmaßliche Stellungen der PKK vor. Auch in der Nacht zum Mittwoch hätten F-16-Kampfflugzeuge dort Ziele getroffen, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Es waren nach Aussage eines Regierungsvertreters die heftigsten Attacken seit Beginn der Militäraktion am vergangenen Freitag.

Während mehrere NATO-Partner Ankara bei einer Sondersitzung des Verteidigungsbündnisses am Dienstag diplomatisch zu einem "verhältnismäßigen" Vorgehen aufforderten und darauf drangen, den Friedensprozess mit der PKK am Leben zu erhalten, kommt von der anderen Seite des Atlantiks demonstrative Unterstützung: Zumindest für den PKK-Beschuss auf irakischem Gebiet gaben die USA als stärkster NATO-Staat Rückendeckung.

Ranghohe Regierungsvertreter erklärten in Washington, die Vereinigten Staaten stuften die Angriffe als eindeutigen Akt der Selbstverteidigung ein. In den vergangenen Tagen hatten die USA mehrfach betont, sie betrachteten die PKK als Terrororganisation - so wird sie auch von der EU gesehen. Die NATO betonte in ihrer gemeinsamen Erklärung, dass sich die Türkei auf die Solidarität der Alliierten verlassen könne. Militärische Unterstützung habe Ankara bisher nicht angefordert.

"Gefährliche Eskalation"

Der Irak kritisierte die Luftangriffe dagegen als gefährliche Eskalation und Verletzung seiner Souveränität. Seinerseits fühle sich der Irak verpflichtet, Angriffe auf die Türkei von irakischem Boden aus zu unterbinden, erklärte Regierungschef Haider al-Abadi im Kurznachrichtendienst Twitter. Eine Mittelposition zwischen Kritik und Unterstützung suchte Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Nach einem Telefonat mit ihrem türkischen Kollegen Vecdi Gönül sagte sie: "Der gemeinsame Kampf gegen den 'Islamischen Staat' muss unser gemeinsames Ziel sein."

Der Einsatz der Bundeswehr im Süden der Türkei werde nun "sehr sorgfältig" beobachtet. Die Bundeswehr hat auf Wunsch Ankaras "Patriot"-Raketenabwehrstaffeln in 100 Kilometer Entfernung von der syrischen Grenze stationiert. Sie sollen den NATO-Partner vor Luftangriffen aus Syrien schützen. Zuletzt hatte die Türkei ihrerseits in mehreren Wellen syrische IS-Stellungen attackiert.

"Krieg gegen den Terrorismus"

Das türkische Parlament berät an diesem Mittwoch in einer Sondersitzung über die angespannte Sicherheitslage des Landes. Die Regierung hat einen doppelten "Krieg gegen den Terrorismus" ausgerufen, der sich gleichzeitig gegen die IS-Dschihadisten und gegen die PKK richten soll. Kritiker vermuten indes, dass die wahren Motive für die Attacken gegen die PKK in Ankaras Angst vor einem kurdisch kontrollierten Gebiet an der Grenze zu Syrien bestünden - und im Ergebnis der Parlamentswahl vom Juni.

Da hatte die islamisch-konservative Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit eingebüßt, weil überraschend viele Wähler der prokurdischen HDP ihre Stimme gaben. HDP-Chef Selahattin Demirtas hält Erdogans AKP vor, seine Partei als unliebsamen Konkurrenten zerstören zu wollen, um bei Neuwahlen die absolute Mehrheit zurückzuerobern: Der Präsident hatte der HDP Verbindungen zur PKK unterstellt - und sie damit rhetorisch zum Abschuss freigegeben.

jj/pg (dpa, afp, rtr)

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