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Über 600 islamistische Gefährder in Deutschland

3. November 2020

Wie gefährlich islamistischer Extremismus ist, zeigen der Anschlag in Wien und die Terrorakte in Frankreich. In Deutschland gehen die Sicherheitsbehörden von 627 islamistischen Gefährdern aus. Die Fakten im Überblick.

Deutschland PK zur Verhaftung von zwei Salafisten in Göttingen
Bild: picture-alliance/dpa/S. Pförtner

Mindestens einer der Attentäter von Wien war der Polizei bekannt. Der noch am Montag Abend erschossene 20-Jährige war aufgefallen, weil er mehrfach vergeblich versucht hatte, auszureisen um sich dem sogenannten Islamischen Staat anzuschließen. Einen Terroranschlag allerdings hatten ihm die Behörden offenbar nicht zugetraut.

Anders die 627 Menschen, die Stand 1. September 2020 von deutschen Sicherheitsbehörden als Gefährder eingestuft sind. Zu denen gehörte auch der 20-jährige Syrer Abdullah al-H., der am 4. Oktober in Dresden ein homosexuelles Paar mit einem Küchenmesser angegriffen und schwer verletzt haben soll. Einer der Männer starb kurz darauf.

Die Behörden sehen die "Bedrohungslage für Deutschland unverändert auf hohem Niveau. Deutschland steht weiterhin im unmittelbaren Zielspektrum von terroristischen Organisationen." Der Anfang Juli veröffentlichte Verfassungsschutzbericht 2019 spricht von vereitelten Anschlagsplanungen, die das vorhandene Gefährdungspotenzial belegten.

Für besonders gefährlich erachtet der Inlandsgeheimdienst "von terroristischen Organisationen inspirierte Einzeltäter", weil die im Vorfeld nur schwer zu identifizieren seien.

Mit diesem Messer ist in Dresden der jüngste islamistische Anschlag in Deutschland verübt wordenBild: Roland Halkasch/dpa/picture-alliance

Was ist ein Gefährder?

Der Begriff Gefährder wurde in Polizeikreisen geprägt. Mittlerweile gibt es eine bundeseinheitlich abgestimmt Definition. Etwas sperrig heißt es da: "Gefährder ist eine Person, zu der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wird". Zu diesen Tatsachen zählen vor allem die Erkenntnisse der Sicherheitsdienste oder der Staatsschutzabteilungen der Polizei. 

In Haft nehmen darf man Gefährder nicht, solange man sie keiner Straftat überführen kann. Das deutsche Sicherheitsrecht und vor allem das Strafrecht orientieren sich an Taten, nicht an Gesinnung oder Gefährlichkeit.

Allerdings gilt bereits die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung als Straftat. Verboten ist auch die "Vorbereitung und Unterstützung einer schweren staatsgefährdenden Straftat".

Der Verfassungsschutz nimmt Gefährder ins Visier - rechte, linke und islamistischeBild: picture-alliance/dpa/M. Becker

Gefährder – und "relevante Personen"

Neben den Gefährdern haben die Sicherheitsbehörden auch gut 500 "relevante Personen" im Blick. Das können Führungspersonen sein, Unterstützer oder auch Akteure innerhalb des terroristischen Spektrums, bei denen ebenfalls die Prognose nahe liegt, dass sie Terroranschläge fördern, begehen oder unterstützen. Das können aber auch Begleitpersonen von Gefährdern sein oder auch Menschen, die Kontakt zu Gefährdern haben. 

Von den gut 300 aus Syrien und dem Irak nach Deutschland zurückgekehrten IS-Dschihadisten wurden zum Stand 1. Juli 109 als Gefährder und 90 als "relevante Personen" geführt.

Insgesamt schätzt die Bundesregierung, dass der Islamistische Terrorismus in Deutschland auf ein Potenzial von knapp 30.000 Menschen aufbauen kann. Die meisten, gut 12.000, kommen aus dem salafistischen Spektrum. Der bildet nach wie vor den Unterbau für den gewaltbereiten Dschihadismus.

Gut 12.000 Salafisten gibt es in DeutschlandBild: picture alliance/dpa/O. Berg

Wie geht man mit Gefährdern um?

Jeder Gefährder wird von den Sicherheitsbehörden einzeln bewertet. Entsprechend dieser Bewertung werden unterschiedliche Maßnahmen getroffen. Die Polizeibehörden sind sehr zurückhaltend mit Auskünften über ihren Maßnahmenkatalog. Fest steht: das Spektrum reicht von der sogenannten "Gefährderansprache" über technische Überwachungsmethoden bis hin zur Rund-um-die-Uhr-Beobachtung durch Polizeikräfte.

Bei der Gefährderansprache wird dem Betroffenen mitgeteilt, dass die Polizei ihn im Auge hat und die Lage ernst nimmt. Die Komplettüberwachung wiederum ist sehr personalintensiv. Nach Angaben des Verfassungsschutzes wären für einen Betroffenen 25 bis 30 Polizisten erforderlich. Deshalb wird sie nur in Einzelfällen durchgeführt.

Bei dem Attentäter von Dresden war auf die aufwändige Rund-um-die-Uhr-Überwachung verzichtet worden. Abdullah al-H. war erst Ende September kurz vor seiner Tat aus dem Gefängnis entlassen worden. Er hatte seine Strafe abgesessen, nahm sogar an einem Deradikalierungsprogramm teil. Dennoch wurde der 20-Jährige aber weiterhin als radikalisiert und gefährlich angesehen.

Deshalb bekam der Syrer Führungsauflagen und musste sich täglich bei der Polizei melden. Der Verfassungsschutz platzierte eine versteckte Kamera vor dem Eingang seiner Unterkunft. Dass er sich zwei Tage vor dem Angriff in einem Dresdner Kaufhaus zwei Messersets kaufte, entging den Behörden anscheinend.

Wohnungsdurchsuchung bei mutmaßlichen islamistischen Gefährdern in Köln im Juli 2019Bild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Werden Gefährder abgeschoben?

Nach Terroranschlägen kommt immer wieder die Diskussion über die Abschiebung von Gefährdern auf. Nach dem Messermord von Dresden etwa dachte Innenminister Horst Seehofer laut darüber nach, den Abschiebestopp nach Syrien für Gefährder auszusetzen.

Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, ob es moralisch vertretbar ist, Menschen, die nicht rechtskräftig verurteilt wurden, in ein Kriegsgebiet abzuschieben, bergen Abschiebungen nach Syrien eine Menge praktischer Probleme. An erster Stelle: Berlin unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Damaskus. Es gibt keine offiziellen Kanäle zu den dortigen Behörden.

Insgesamt werden Gefährder durchaus abgeschoben. Seit 2017 wird statistisch erfasst, wie oft. Bis Ende 2019 waren das genau 93 Gefährder und "relevante Personen". Abschiebungen sind oft schwer und langwierig. Das zeigt das Beispiel von Anis Amri, dem Attentäter vom Breitscheidtplatz in Berlin, dem bislang mit 12 Toten folgenschwersten islamistischen Attentat in Deutschland im Dezember 2016.

Auch weil Amri mit mindestens 14 verschiedenen Identitäten unterwegs war, war es den abschiebewilligen deutschen Behörden nicht gelungen, aus Tunesien die dafür nötigen Personalersatzpapiere (PEP) zu beschaffen. Diese trafen erst zwei Tage nach dem Anschlag ein.

Allerdings: Die meisten Gefährder haben ohnehin einen deutschen Pass.