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Politik

Venezuela: "Überall fehlen Medikamente"

19. Februar 2019

Not und Versorgungsengpässe zwingen immer mehr Venezolaner, ihr Land zu verlassen. In den Nachbarländern stößt man bei der medizinischen Versorgung an Grenzen, sagt Andreas Lindner vom Deutschen Roten Kreuz in Bogotá.

Venezuela Kolumbien Grenzübergang bei Cucuta
Bild: DW/F. Abondano

Deutsche Welle: Herr Lindner, wie ist die aktuelle Situation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze, vor allem in Cúcuta?

Andreas Lindner: Die Situation wird seit anderthalb Jahren immer dramatischer. Tausende Venezolaner kommen täglich über die Grenze, bleiben in Kolumbien oder ziehen weiter in andere lateinamerikanische Länder. Allein in Kolumbien sind es mittlerweile 1,2 Millionen Venezolaner, in Ecuador über 200.000 Menschen und in Peru mehr als eine halbe Million – allein in diesen drei Ländern sind es also knapp zwei Millionen Venezolaner, die nicht mehr gewusst haben, wie sie zu Hause über die Runden kommen sollen.

Wie hat das Rote Kreuz auf diese Vielzahl von Flüchtlingen reagiert?

Wir haben direkt am Grenzübergang in Cúcuta zwei Gesundheitsstationen eingerichtet, eine direkt hinter der Grenzbrücke funktioniert bereits seit 2017. Mittlerweile haben wir auch medizinische Hilfsstationen an der Grenze zu Ecuador und entlang der Migrationsroute in Kolumbien. Viele venezolanische Migranten haben nicht einmal Geld für ein einfaches Busticket und laufen deshalb einfach los, um hunderte Kilometer entfernte Zielorte anzusteuern. Ihnen helfen wir mit mobilen Gesundheitsstationen, wo zum Beispiel erst einmal die Blasen an den Füßen behandelt werden. Die Menschen sind ja tagelang unterwegs. Wir geben ihnen auch Lebensmittel und Hygienepakete sowie geografische Orientierungshilfen und beraten sie, wie sie legal einreisen können.

Mit welchen Beschwerden kommen die Flüchtlinge noch zu Ihnen?

Das Gesundheitswesen in Venezuela selbst ist nahezu zusammengebrochen, überall fehlen Medikamente und medizinische Verbrauchsmaterialien. So haben die Frauen, die in Kolumbien eintreffen, zum Beispiel keine pränatale Kontrolle erhalten. Kinder kommen ohne Impfungen. Natürlich kommen auch Menschen mit chronischen Krankheiten, für die unsere Basis-Gesundheitseinrichtungen kaum ausgestattet sind.

Andreas Lindner ist Leiter des Regionalbüros des Deutschen Roten Kreuzes für Lateinamerika in Bogotá, KolumbienBild: Privat

Wie müssen wir uns diese mobilen Gesundheitseinrichtungen genau vorstellen?

Das sind Zelte oder Container, die wir gemietet und umgerüstet haben. Dort arbeitet ein Arzt mit zwei, drei Schwestern, in mehreren Fällen auch Psychologen. Die mobilen Ambulanzen patrouillieren auch auf den Straßen, um Erste Hilfe zu leisten, zum Beispiel bei Atemwegs- oder Durchfallerkrankungen. Wir verteilen auch kostenlos Medikamente, operative Eingriffe können wir natürlich nicht durchführen. Dort, wo der Orinoco an der Ostgrenze zu Kolumbien verläuft, haben wir ein Boot in eine schwimmende Ambulanz umgerüstet. Früher wurde es von Touristen genutzt, um den tropischen Regenwald zu erkunden. Dort kommt auch die indigene Bevölkerung Venezuelas mit ihren Kanus über den Fluss, um sich medizinisch versorgen zu lassen. In dem Fall handelt es sich nicht um Migranten, denn sie kehren danach in ihre Heimatdörfer auf der venezolanischen Seite des Flusses zurück. Doch die Geschichte, die wir hören, ist immer die gleiche: In den Krankenhäusern gibt es nichts mehr. Das verbliebene Personal arbeitet tatsächlich mit den Fingernägeln.

Ist die internationale Hilfe ausreichend?

Momentan ist die internationale Aufmerksamkeit natürlich sehr groß. Wir haben von der Europäischen Union eine sehr großzügige Zuwendung erhalten, um Menschen entlang der gesamten Migrationsroute von Cúcuta bis hinunter nach Lima medizinisch helfen zu können. Wir haben auch vom Auswärtigen Amt Unterstützung bekommen für ein Zwei-Jahres-Projekt, das sich speziell auf die kolumbianische Grenzprovinz Norte de Santander konzentriert. Trotzdem können wir natürlich jede Spende sehr gut gebrauchen, weil nicht absehbar ist, wie lange die Situation noch anhält.

Was ist mit der medizinischen Hilfe, die jetzt an der Grenze lagert und nach Venezuela gelangen soll?

Das ist eine sehr politisierte Angelegenheit. Wir als Rotes Kreuz, sei es das Deutsche, das Kolumbianische oder auch das Internationale, haben beschlossen, uns nicht an dieser Aktion zu beteiligen. Natürlich bereiten aber auch wir uns für den Fall vor, dass Hilfe direkt in Venezuela geleistet werden kann. Wir lagern jetzt schon zusätzliche Hilfsgüter, Medikamente und Lebensmittel in Cúcuta ein – für den Fall, dass in den nächsten Wochen oder Monaten die Möglichkeit besteht, in Venezuela direkt helfen zu können.

In der Grenzregion erhalten die venezolanischen Flüchtlinge vom Roten Kreuz erste HilfsutensilienBild: European Union/N. Mazars

Wie wird sich Ihrer Erwartung nach die humanitäre Situation in nächster Zeit entwickeln?

Wir gehen davon aus, dass selbst bei einer Änderung der Situation in Venezuela die meisten Venezolaner kurzfristig nicht zurückkehren. Es wird also notwendig sein, sie in den Nachbarländern mittelfristig weiter zu unterstützen.

Das wird vor allem für Kolumbien, wohin die meisten Venezolaner geflüchtet sind, eine große Herausforderung sein. Wie nehmen Sie die Stimmung dort aktuell wahr?

Die Kolumbianer haben eine sehr große Aufnahmebereitschaft gezeigt, sowohl von der Bevölkerung, als auch von Regierungsseite. Während es in Ländern wie Ecuador, Peru und Chile weiter südlich immer wieder Bestrebungen gab und gibt, die Einwanderung zu erschweren, zum Beispiel durch die Forderung nach Dokumenten, welche die Venezolaner nur schwerlich beschaffen können. Kolumbien dagegen hat bislang keinerlei Beschränkungen erlassen, im Gegenteil. 800.000 der 1,2 Millionen Flüchtlinge haben sich registrieren lassen und damit eine Aufenthaltsgenehmigung für zwei Jahre erhalten. Sie können sich also in Kolumbien eine Arbeit suchen und für diesen Zeitraum niederlassen.

Und in der kolumbianischen Bevölkerung?

Die Stimmung ist noch positiv und vorrangig von Solidarität geprägt. Aber natürlich ist es problematisch, dass viele der venezolanischen Emigranten, verständlicherweise muss man sagen, Jobs mit einem sehr niedrigen Lohn annehmen. Das könnte der Nährboden für xenophobe Stimmungen werden. Sollte diese Situation über Jahre anhalten, könnte die Stimmung also durchaus kippen.

Das Gespräch führte Oliver Pieper.

Andreas Lindner ist Leiter des Regionalbüros des Deutschen Roten Kreuzes für Lateinamerika in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.

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