Überflieger mit Mandat
29. Oktober 2009
"Ich habe damals ein Element ausgegraben, das ich acht Monate zuvor einmal trainiert hatte, nämlich die so genannte Endo-Grätsche im L-Griff“, erinnert sich Eberhard Gienger an die WM im bulgarischen Varna. "Gegen alle Regeln der Trainings- und Wettkampfplanung habe ich diese kurzfristig eingebaut und bin auch deshalb Weltmeister am Reck geworden.“
Wer wagt, gewinnt! Zumindest am 28. Oktober 1974 ging die Rechnung auf für einen wie Gienger, der vor der Kür noch auf Rang vier gelegen hatte. Im Vorfeld seines größten Erfolges hatte der Mann aus Künzelsau längere Zeit mit Verletzungen zu kämpfen gehabt und erst spät zu guter Form gefunden. Jahrzehnte später bekannte der Vorzeige-Athlet allerdings, damals kurzzeitig leistungsfördernde Mittel erhalten zu haben – ob dies nun tatsächlich anabole Steroide oder harmlosere Präparate waren, ist bis heute umstritten.
Champion mit "Privat-Salto“
In jedem Fall bleibt sein Name unsterblich. Auch durch den "Gienger-Salto“, der nach nur mäßig erfolgreichen Europameisterschaften drei Jahre später entstand: Inspiriert durch die starke Konkurrenz, wollte der Schwabe eigentlich ein vom Bulgaren Stojan Deltschev kreiertes Element nachturnen. Der vollführte im Vorschwung eine so genannte offene Drehung mit Salto vorwärts und Grätschen der Beine. Doch die Kopie misslang gründlich, da Gienger den Bewegungsablauf zunächst falsch analysiert hatte: "Daher kam bei mir ein gebückter Rückwärtssalto mit halber Schraube heraus, damit ich die Reckstange wieder fassen konnte.“ Genosse Zufall stand also Pate bei einer "Erfindung“, die dennoch um die Welt ging. "In der Folge hat nahezu jeder am Reck diese Übung trainiert und in seine Kür aufgenommen.“
Mittlerweile wird sie von männlichen Weltklasseturnern kaum noch gezeigt, bei den Damen am Stufenbarren ist der Gienger-Salto jedoch noch häufig zu bewundern. Sein Urheber sammelte neben dem WM-Titel übrigens noch drei Vize-Weltmeisterschaften, drei Europameisterschaften sowie 36 nationale Titel ein. Ein Jahrzehnt der Weltklasse nicht nur am Lieblingsgerät, belohnt auch durch die beiden Auszeichnungen als Deutschlands Sportler des Jahres 1974 und 1978.
Format bewies Eberhard Gienger schon während seiner aktiven Zeit auch jenseits der Matte: Nach der Europameisterschaft 1975 in Bern öffnete er einem seiner stärksten Konkurrenten - Wolfgang Thüne aus der DDR – im eigenen Auto den Weg in die Bundesrepublik. "Allerdings nicht, wie später mitunter kolportiert wurde, im Kofferraum oder sonst wo abenteuerlich versteckt“, stellt Gienger klar. "Er saß eher gemütlich auf der Rückbank, und wir haben ohne große Schwierigkeiten die Grenze aus der Schweiz kommend überquert.“
Vom Fluchthelfer zum Politprofi
Jedoch schwante Gienger schon auf der Fahrt, dass der Gang an die Öffentlichkeit für ihn künftig Starts im Ostblock unmöglich machen würde. Schließlich bot Wolfgang Thüne als Vizeweltmeister am Reck und Medaillengewinner bei Olympischen Spielen für den SED-Staat Anlaß genug, um sich an allen Beteiligten zu rächen. "Wir haben lange überlegt, wie wir das einigermaßen geschickt anstellen“, schmunzelt Eberhard Gienger noch heute. "Schließlich kamen wir auf die glorreiche Idee, zu sagen, Thüne sei per Anhalter geflüchtet!“
Da sich alle Mitwisser an diese Version hielten, kam der wahre Sachverhalt erst im Jahre 1999 ans Licht. Damals war Eberhard Gienger längst in zahlreichen Ehrenämtern beim Turnerbund oder dem heutigen DOSB aktiv, wo er es bis um Vizepräsidenten für Leistungssport brachte. Bereits 2002 gelang als "Quereinsteiger“ auch der Sprung in die Politik – gerade eroberte er zum dritten Mal in Folge für die CDU ein Direktmandat im Bundestag. Schwerpunkte dort waren bisher die Arbeit im Sportausschuss, dem er seit Beginn angehört, und im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung: "Die politische Tätigkeit macht mir auch viel Freude. Sie ist sehr vielfältig und durch sie kann man auch für sich jeden Tag etwas Neues dazu lernen.“
Flugteile als Lebenselixier
Schon seit langer Zeit betreibt der heute 58jährige aber auch eine Event-Agentur, wo der populär gebliebene Chef naturgemäß das Zugpferd ist: So lassen sich bei der "pro-motion GmbH“ Akrobatik-Einlagen am Reck mit Gienger und Mitstreitern buchen oder Fallschirm-Sprünge, bei denen der Meister zu Showzwecken solo oder mit Kunden im Tandem-Flug landet.
Mehr als 3.000 Sprünge hat Eberhard Gienger mittlerweile absolviert, darunter Flüge vom Berliner Fernsehturm "Alex“ oder den höchsten Wasserfällen der Welt. Doch im Jahre 2000 hätte den Ehemann und Vater von drei Söhnen seine Passion beinahe das Leben gekostet: Eine Windböe packte seinen Fallschirm und faltete diesen zusammen, ein nahezu ungebremster Fall aus über zehn Metern Höhe war die Folge. "Vom Nabel abwärts hatte ich eigentlich fast alles gebrochen, aber die Jahrzehnte des Leistungssports haben mir beim Heilungsprozess sehr geholfen“, berichtet Eberhard Gienger. "So bin ich auch heute wieder in der Lage, Riesenfelgen zu drehen, Doppelsalti vom Reck zu schlagen und natürlich auch Fallschirm zu springen.“
Autor: Lutz Kulling
Redaktion: Wolfgang van Kann