Überlebenskampf auf dem Schulhof
26. Januar 2018"Die Politik muss diese schreckliche Gewalttat zum Anlass nehmen, das Ausmaß an Verrohung und Gewalt in der Gesellschaft ernst zu nehmen und zu handeln", fordert Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). "Die Schulen werden mit vielen Herausforderungen alleine gelassen."
In regelmäßigen Abständen schocken Gewaltausbrüche an Schulen wie jetzt in Lünen die deutsche Öffentlichkeit. Zu den schlimmsten Vorfällen gehörte der Amoklauf am 26. April 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Der damals 19-jährige Schüler Robert Steinhäuser erschoss elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretärin, zwei Schüler und einen Polizeibeamten.
Für nationales Aufsehen sorgte 2006 auch der Brandbrief der ehemaligen Leiterin der Rütli-Schule im Berliner Stadtteil Neukölln. Petra Eggebrecht beschrieb die Zustände in ihrer Schule mit Sätzen wie "Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen" und "einige Kollegen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können".
Schüler gegen Lehrer
Für den Lehrerverband ist das Thema nicht neu. Eine von ihm im Auftrag gegebene Forsa-Studie vom November 2016 ließ erstmals das Ausmaß der Gewalt erahnen, das in vielen Schulen zum Alltag gehört. 45.000 Lehrkräfte gaben an, in den vergangenen fünf Jahren körperlich angegriffen worden zu sein.
Es gibt keine bundesweite Statistik über Gewalttaten an deutschen Schulen. Lediglich einzelne Zahlen werden von der Unfallkasse oder der Beihilfe bei massiven Krankheitsfällen erfasst.
"Vorfälle wie in Lünen sind nicht vorhersehbar, weil sie extrem selten sind", sagt Bernd Ahrbeck, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der International Psychoanalytic University in Berlin. Aber auf problematische Entwicklungen von Schülern gebe es normalerweise jede Menge Hinweise.
Unterricht in unterschiedlichen Formen
"Von denjenigen, die später jugendliche Gewalt- und Intensivtäter werden, sind die allermeisten schon in der Grundschulzeit auffällig", weiß Ahrbeck. "Vor allem bei Selbst- und Fremdgefährdung kann nicht jedes Kind zu jeder Zeit seines Lebens am gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Das muss man anerkennen."
Neben dem Besuch einer Regelschule hält das deutsche Schulsystem deshalb für verhaltensauffällige Kinder auch andere Lernmöglichkeiten bereit. Kinder mit sogenanntem "sonderpädagogischem Förderbedarf" werden an speziellen Förderschulen unterrichtet oder in kleinen Lerngruppen, in Sonderklassen oder auch vorübergehend zuhause.
Doch ohne die Mitwirkung der Eltern, so die Erfahrung, sind die meisten Bemühungen zum Scheitern verurteilt. "Wenn das Elternhaus nicht mitzieht, ist es für alle Institutionen, auch das Jugendamt, schwer", sagt VBE-Chef Beckmann. Die Eltern seien oft selbst überfordert, und auf die Unterstützung eines Schulsozialarbeiters oder Schulpsychologen angewiesen.
Überfrachteter Schulalltag
Mehr Integration, mehr Inklusion, mehr Verhaltensauffälligkeiten und mehr Aggression: Der Schulalltag ist schwieriger geworden. "Unser Schulsystem kommt immer mehr Erziehungs- und Betreuungsaufgaben zugewiesen, die von Lehrkräften allein nicht bewältigt werden können", betont Beckmann. Dazu gehörten auch medizinische Aufgaben, "weil wir immer mehr Kinder haben, die auch Medikamentengabe brauchen."
Es gibt allerdings auch positive Entwicklungen. Die Berliner Rütli-Schule ist mittlerweile zum Vorbild für Integration und Innovation avanciert. Auf dem sogenannten "Rütli-Campus" befinden sich neben der Gemeinschaftsschule auch zwei Kindertagesstätten. Bis 2020 soll eine Berufswerkstatt, ein Stadtteilzentrum, das Jugendamt, der Zahnärztliche Dienst und die Volkshochschule hinzukommen.
Für VBE-Chef Beckmann, der lange an einer sozialen Brennpunktschule in Dortmund unterrichtet hat, weisen die Reformen an der Rütli-Schule in die richtige Richtung. "Seit zehn Jahren wird in der Politik darüber diskutiert, dass Schulen Unterstützung durch Sozialpädagogen, Schulpsychologen und multiprofessionelle Teams brauchen", sagt Beckmann. Und noch immer seien die Schulen bei weitem nicht ausreichend ausgestattet: "Wir stehen erst am Anfang."