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Politik

Überwachung und Umerziehung in Xinjiang

17. September 2018

In der westchinesischen Provinz Xinjiang verschwinden Hunderttausende Muslime in Umerziehungslagern. Die DW hat Angehörige und Augenzeugen im benachbarten Kasachstan getroffen.

China Kasache Khairat Samarkhan
Bild: DW/Mathias Bölinger

Kairat Samarkhan (Artikelfoto) ist keiner, der gern viele Worte macht. Vielleicht ist es die Müdigkeit nach einer langen Arbeitswoche, vielleicht ist es auch die Tatsache, dass er seine Geschichte schon mehrmals erzählt hat - den Lageralltag und den Versuch, sich umzubringen, indem er seinen Kopf immer wieder gegen die Wand schlägt. Wie man das schafft, trotz des Schmerzes immer weiterzumachen? "Weil es mir schlecht ging", antwortet er knapp und schaut, als habe man ihn gerade gefragt ob Kühe wirklich Milch geben. "Ich habe es nicht mehr ausgehalten."

Kairat erzählt von seiner Haftzeit in einem Umerziehungslager in der westchinesischen Region Xinjiang. Nach Schätzungen internationaler Organisationen könnte mehr als eine Million Menschen in solchen Camps sitzen. "Die Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang haben ein Ausmaß, das China seit der Kulturrevolution nicht mehr gesehen hat", schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in einem Bericht, der Mitte September erschien. Ein Netz von Lagern überzieht die Region, die traditionell von den muslimischen Minderheiten der Uiguren und Kasachen bevölkert wird. Seit vielen Jahren gibt es Spannungen zwischen Uiguren und der chinesischen Zentralregierung. Nun verschärft die chinesische Regierung die Repression. Willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung.

Xinjiang und seine Nachbarn in Zentral- und Südasien

"Niemand wollte uns glauben"

Im Büro der Organisation Atajurt in der kasachischen Metropole Almaty drängen sich Dutzende Menschen um einen ovalen Tisch. Viele haben Fotos dabei, Ausweiskopien. Es sind Angehörige von Verhafteten. Am Tisch sitzt ein Team von Amnesty International, das Namen und Geschichten notiert. Die Organisation Atajurt wurde 2017 gegründet, als die ersten Meldungen aus China über die Grenze drangen. "Als wir die ersten Fälle publik machten, wollte uns keiner glauben, dass so etwas wirklich passiert", sagt Kidirali Orazuly, der Gründer von Atajurt. Eine Frau erzählt, ihr Vater sei von einem Polizisten beobachtet worden, wie er zu Hause gebetet habe. Eine Studentin berichtet, dass ihr Vater verhaftet wurde, weil er den Messenger-Dienst Whatsapp auf dem Handy hatte. Allein die Möglichkeit, mit dem Ausland kommunizieren zu können, ohne dass die chinesische Regierung Zugriff darauf hat, machte ihn verdächtig.

Kasachstan hat enge Verbindungen nach Xinjiang - enger als jedes andere Land. In der westchinesischen Region leben rund 1,6 Millionen ethnische Kasachen. Rund 200.000 Kasachen aus Xinjiang sind in Kasachstan eingebürgert worden seit die ehemalige Sowjetrepublik 1991 unabhängig wurde. Viele von ihnen haben noch Eltern, Geschwister, Kinder in China - Angehörige, die im vergangenen Jahr plötzlich nach und nach verschwanden.

Eine andere Frau hält zwei große Porträtfotos in Klarsichthüllen hoch - Ihr Sohn und ihre Tochter. Das 13jährige Mädchen ging in Kasachstan zur Schule. Die Mutter lebte mit ihr in Almaty, als der Sohn auf der anderen Seite der Grenze verhaftet wurde. Ihm wurde ein Selfie zum Verhängnis, das er mit einem kasachischen Popstar gemacht hatte. Chinas Behörden warfen ihm vor, ein "Doppelgesicht" zu haben. Das bedeutet im Jargon der kommunistischen Partei, dass seine Loyalität nicht der chinesischen Nation und der kommunistischen Partei, sondern der eigenen Ethnie gehört. Doch der Sohn war den Behörden nicht genug. Verwandte meldeten sich bei der Frau. Die Behörden verlangten, dass die Tochter nach China zurückkehrt und dort weiter zur Schule geht. "Ich hatte keine Wahl", sagt die Frau unter Tränen, "sie drohten die gesamte Verwandtschaft zu verhaften." Gleich nach seiner Ankunft verschwand das Mädchen im Lager. Immer wieder berichten Exil-Uiguren und -Kasachen von solchen Versuchen Chinas, ihre Rückkehr zu erpressen.

Parteichef Chen Quanguo ist die treibende Kraft hinter dem massiven Ausbau des Überwachungs- und Umerziehungssystems in Xinjiang Bild: picture-alliance/AP Photo/Ng Han Guan

Singstunden

Auch über Kairat Samarkhan fällten die Behörden das Urteil "Doppelgesicht". Er lebte seit 2009 in Kasachstan. Als er nach China zurückkehrte, um einige geschäftliche Dinge zu erledigen, wurde er von der Polizei zum Verhör einbestellt. Sie wollten wissen, was er in Kasachstan getan, mit wem er sich getroffen habe. Dann durchsuchten sie sein Smartphone. In seinem Userpic in sozialen Medien hatte er die Buchstaben KZ, das internationale Kürzel für Kasachstan. Damit stand das Urteil fest. "Als ich im Lager ankam, dachte ich, jetzt ist alles vorbei", sagt Samarkhan.

"Der Tag im Lager begann mit dem Singen der Nationalhymne, danach begann der 'Unterricht'", erzählt Samarkhan. 5700 Insassen waren in dem Lager, schätzt er. Die Gefangenen mussten stundenlang Lieder singen, die die Kommunistische Partei preisen. "Ohne die Kommunistische Partei gäbe es kein Neues China", "Der Osten ist rot". Sie erhielten Lektionen über den 19. Parteikongress im vergangenen Jahr und mussten Slogans nachsprechen. "Wir lernten, was für ein toller Mensch Xi Jinping ist und was für ein toller Ort zum Leben China ist", erzählt er.

Die Gefangenen wurden in Gruppen eingeteilt, alle, die wegen religiöser Aktivitäten einsaßen, waren in einem Gebäude untergebracht. Diejenigen mit Auslandskontakten in einem anderen. Eine gesetzliche Grundlage für die Massenverhaftungen gibt es nicht, ebensowenig wie ein Strafmaß. Die Lagerleitung entscheidet, wer freikommt und wer nicht. "Das war das Schlimmste", sagt Kairat. "Du weißt nicht, wie lange du hier bist, ob Du jemals freikommst, oder ob sie am Ende vielleicht sogar alle umbringen." Er begann über Selbstmord nachzudenken. Doch alle Kleidungsstücke, an denen er sich hätte aufhängen können, hatten sie ihm abgenommen. Da begann er, seinen Kopf gegen die Wand zu schlagen - bis er bewusstlos war. Danach wurde er entlassen. Kairats Erzählung lässt sich nicht verifizieren, doch was er beschreibt entspricht dem, was andere Gefangene berichten. Auch Selbstmordversuche tauchen immer wieder in den Berichten auf.

Ein Kasache in Almaty zeigt ein Foto seiner vermissten Eltern, die er in einem chinesischen Umerziehungslager vermutetBild: picture-alliance/AP Photo/N. H. Guan

Kampf gegen Islamismus 

Die Region Xinjiang ist seit langem ein Konfliktherd in China. Uiguren, die größte Bevölkerungsgruppe, haben immer wieder gegen die chinesische Herrschaft aufbegehrt - auch mit Gewalt. 2009 kamen bei Ausschreitungen in der Gebietshauptstadt Urumqi rund 200 Menschen ums Leben, 2014 griffen Attentäter Passanten im Bahnhof im südchinesischen Kunming mit Messern und Macheten an, mindestens 29 Passanten wurden getötet. Die Behörden machten uigurische Separatisten verantwortlich, was später durch Bekennerschreiben aus deren Kreisen bestätigt wurde.

China stellt die Gewalttaten in eine Reihe mit islamistischen Anschlägen im Westen. Das Lagersystem sei "notwendig, um religiösen Extremismus zu bekämpfen", sagte ein Sprecher Chinas am Rand einer Sitzung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen Anfang September. "Denn der Westen ist im Kampf gegen den islamischen Extremismus gescheitert." Es war das erste Mal, dass China die Masseninternierung zugab, auch wenn der Vertreter darauf bestand, es handle sich nicht um Lager, sondern um "berufsbildende Ausbildungszentren."

Xinjiangs Muslime sollen Patriotismus lernen - wenn nötig zwangsweise Bild: Getty Images/K. Frayer

"Es geht um Gehirnwäsche"

China macht dabei keinen Unterschied zwischen dschihadistischer Ideologie und dem Bestehen auf kultureller Eigenständigkeit. "Die Wurzel des Terrorismus ist der ethnische Separatismus und seine Ideologie ist der religiöse Extremismus" erklärte Parteichef Xi Jinping. Der Besitz eines Gebetsteppichs kann Muslime seitdem ebenso in Verdacht bringen wie Abwesenheit beim Hissen der chinesischen Flagge, das in vielen Orten in Xinjiang inzwischen für die Bewohner verpflichtend ist. "Es geht um Gehirnwäsche. Sie sollen sich als Teil der chinesischen Nation fühlen und ihre eigene ethnische Identität ablegen", sagt Patrick Poon, China-Experte bei Amnesty International.

Kairat ist einer von wenigen, die es geschafft haben, China zu verlassen. Und er ist einer von noch weniger ehemaligen Insassen, die sich trauen, mit ihrem vollen Namen zitiert zu werden. Er ist Vollwaise - anders als die meisten anderen Flüchtlinge hat er keine Angst, dass Rache an seinen Angehörigen geübt wird. Die kasachischen Behörden hätten ihn vor Chinas langem Arm gewarnt, sagt er. Er könne sich mit seinen Aussagen in Gefahr bringen. "Aber wenn wir nicht erzählen, was dort vor sich geht, wer wird es dann tun?"

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