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Loveparade 2010: "Das tut unheimlich weh"

24. Juli 2020

21 Glockenschläge erinnern in Duisburg an die Menschen, die hier am 24. Juli 2010 starben. 21 Tote, 652 Verletzte, ein Prozess ohne Urteil - die Loveparade belastet Angehörige wie Gabi Müller bis heute.

Deutschland «Nacht der 1000 Lichter» zum 10. Jahrestag der Loveparade
Bild: Reuters/L. Kuegeler

Christian Müller wäre heute 35 Jahre alt, er wurde nur 25. Er ist einer von 21 jungen Menschen aus Australien, China, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Spanien, deren Leben am Nachmittag des 24. Juli 2010 jäh endet - als sie feiern wollen auf der großen Techno-Party in Duisburg, der Loveparade.

Zum 10. Jahrestag können viele Angehörige aus dem Ausland wegen der Corona-Pandemie nicht anreisen. Gedenkgottesdienst und Trauerfeier - mit begrenzten Teilnehmerzahlen - werden per Livestream übertragen. Zum Unglückszeitpunkt um 17 Uhr erinnern Glockenschläge an die Toten.

Gabi Müller hat ihren Sohn Christian vor zehn Jahren beim Loveparade-Unglück verlorenBild: DW/Madmo Springer

Christians Mutter Gabi Müller konnte letztes Jahr nicht zum Gedenken fahren, ihr Mann lag im Sterben. Abends kam die spanische Familie Zapater-Caminal zu Besuch und brachte eine Kerze vom Gedenken in Duisburg mit. Auch ihre Tochter Clara (22) starb bei der Loveparade.

Dieses Jahr geht Gabi Müller ohne ihren Mann durch den Tunnel zur Gedenkstätte, an die Unglücksstelle auf der sogenannten "Rampe Ost", dem ansteigenden Weg, der aus dem Tunnel auf das eingezäunte Festivalgelände führte.

Die Rampe war Zugang und Ausgang, ein Nadelöhr, durch das weit mehr als 200.000 Besucher das Gelände mit den Floats, den Musiklastern, erreichen und verlassen sollten. Für Gabi Müller ist es "ein Ort des Grauens". 2010 kommt es hier zum tödlichen Stau der Besucher: Christian, Clara und 19 weitere junge Männer und Frauen werden erdrückt.

Katastrophe nach der Katastrophe

Ihre Hoffnungen auf politische und juristische Aufarbeitung hätten sich nicht erfüllt, sagt Gabi Müller: "Das tut unheimlich weh." Die 62-Jährige erläutert der DW: "Den Tod von unserem Sohn kann man nicht rückgängig machen. Aber was danach passierte, hätte man anders machen können." Ihr geht es darum, dass sich so etwas "nie wiederholen kann".

Wie viele Angehörige und Überlebende hätte sie sich einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss gewünscht und eine schnelle juristische Aufarbeitung, um die Verantwortung aller Beteiligten in der Planung, Genehmigung und Durchführung der Loveparade gerichtlich festzustellen - rechtzeitig vor der drohenden Verjährung Ende Juli 2020. Doch dazu kam es nicht. Für Christians Mutter, die mit einer Petition für den Prozess kämpfte und als Nebenklägerin oft im Gerichtssaal saß, ist das "die Katastrophe nach der Katastrophe".

Gabi Müller (re.) war eine von mehr als 60 Nebenklägern - sie kämpfte mit einer Petition für den Loveparade-ProzessBild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

So sieht es auch Manfred Bauknecht, der das Unglück mit Handy-Videos dokumentierte, die beim Prozess auf drei großen Leinwänden gezeigt werden - verzweifelte Hilfeschreie gellen durch den Gerichtssaal. "Die erste Katastrophe war das Unglück selbst - dass sowas in Deutschland überhaupt passieren kann", schreibt er in einem Youtube-Kommentar. Hier gebe es doch "strenge Gesetze für alles mögliche".

Die zweite Katastrophe sei der Prozess: Der begann nach langen Ermittlungen und juristischem Streit im Dezember 2017 "viel zu spät" - mit einer mittlerweile "unlösbaren Aufgabe" - und gehe ohne Urteil zu Ende. Fahrlässige Tötung und Körperverletzung warf die Anklage zehn Mitarbeitern der Stadt Duisburg und des Veranstalters Lopavent vor. Dokumentarfilmer haben den Prozess vom ersten bis zum letzten Tag begleitet.

Loveparade-Prozess eingestellt

"Spätestens um 16:49 Uhr waren Besucher auf der Rampe Ost nahe der schmalen Treppe gestürzt. Anschließend standen andere Besucher unmittelbar vor den am Boden liegenden Menschen und fielen bei weiteren Wellenbewegungen aus allen Richtungen auf die am Boden liegenden Personen, sodass diese ineinander verkeilt in mehreren Schichten in einer Art 'Menschenhaufen' übereinanderlagen." So beschreibt die Strafkammer des Landgerichts Duisburg das Unglück in einem 44-seitigen Beschluss, mit dem sie den Loveparade-Prozess im Mai 2020 einstellt.

Schreckliche Erfahrungen: Rettungskräfte, die auf der Loveparade 2010 eingesetzt waren, bei der Trauerfeier für die OpferBild: picture-alliance/Sven Simon/M. Ossowski

Eine Art "Menschenhaufen": Auf einem Quadratmeter werden sieben Menschen zusammengepresst. Im Prozess schildern Überlebende ihre Verzweiflung, als sie in der Engstelle zwischen Tunnel, Mauern und Treppe den Boden unter den Füßen verlieren, stürzen, Menschen über ihnen liegen, sie nicht mehr atmen können. Einige haben später Fußabdrücke auf dem T-Shirt oder im Gesicht. Rosalinda B. spricht vor Gericht über ein junges Mädchen, das um Hilfe flehte, dem sie aber nicht helfen konnte. Sie wurde selbst schwer verletzt.

Ursache des Unglücks ist keine "Massenpanik" der Besucher, wie es 2010 in ersten Meldungen heißt. Durch Fehler bei der Planung, Organisation und Durchführung der Großveranstaltung kommt es zum tödlichen Stau, das zeigt das Gutachten von Jürgen Gerlach für den Prozess.

Noch am Veranstaltungstag hätte die Katastrophe verhindert werden können, wenn Veranstalter und Polizei die Menschenströme rechtzeitig gemeinsam reguliert hätten. Eingekeilt, in Todesgefahr, versuchen Besucher, einander zu helfen. Das dokumentieren die Videos von Manfred Bauknecht. Er spricht beruhigend auf eine am Boden liegende junge Frau ein. Sie hat überlebt.

Manfred Bauknecht sprach beim Loveparade-Unglück beruhigend auf Kristina M. ein - sie überlebteBild: picture-alliance/dpa/H. Ossinger

Als sich die Menge löste, versuchte er vergeblich, zwei leblose Personen zu reanimieren. Die Szenen danach haben sich bei ihm eingebrannt, berichtet er der DW: "Als ich nach der Katastrophe über das Gelände lief, völlig fertig und mir kommen feiernde, gut gelaunte Leute entgegen - das hat sich ein bisschen angefühlt wie ein Zombie unter Lebenden."

Schuldgefühle von Überlebenden

Rosalinda B. fühlt sich jahrelang schuldig, weil sie lebt und nicht helfen konnte. So geht es auch anderen der 652 Überlebenden, die verletzt wurden - viele traumatisiert: Manche können nach der Loveparade nicht mehr in öffentliche Verkehrsmittel steigen oder durch Tunnel laufen, einige nicht mehr arbeiten.

Auch Christians Freunde hätten sterben können, sagt Gabi Müller. Ihrem Mann und ihr sei es wichtig gewesen, ihnen zu versichern, dass sie seinen Tod nicht verhindern konnten. Zwei der Freunde lassen sie Christian zu Grabe tragen: "Wir vertrauen ihn euch an. Euch trifft keine Schuld."

Den zehn Angeklagten im Loveparade-Prozess standen fast ebensoviele Anwälte zur Seite wie den mehr als 60 NebenklägernBild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

Schuld - das Gericht prüft die strafrechtliche Schuld jedes einzelnen Angeklagten. Es vernimmt mehr als 100 Zeugen - Verletzte, Mitarbeiter der Stadt Duisburg, des Loveparade-Veranstalters Lopavent, der Polizei und der Feuerwehr. Die Hauptakte hat über 60.000 Seiten, dazu 1000 Aktenordner Ergänzungen und knapp 1000 Stunden Videomaterial.

Die Richter kommen zu dem Schluss, es handele sich um ein "multikausales Geschehen" mit sehr vielen Beteiligten, bei den Angeklagten sei von einer geringen Schuld auszugehen. Das Gericht hält die Aufklärung für weitgehend gelungen und stellt das Verfahren ein, ohne Schuld- und ohne Freispruch.

Gabi Müller am Unglücksort, wo heute eine Gedenkstätte an die 21 Toten der Loveparade 2010 in Duisburg erinnertBild: DW/Madmo Springer

"Den einen großen Bösewicht" habe man nicht gefunden, sagt der Vorsitzende Richter Mario Plein am letzten Prozesstag und spricht Gabi Müller direkt an. Die Formulierung finde sie unglücklich, sagt sie der DW: "Wir waren nie auf der Suche nach einem Bösewicht." Man "hätte ja auch mal Worte an die ehemaligen Angeklagten richten können".

Loveparade: Der Schmerz bleibt

03:05

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Hoffnung auf Konsequenzen

"Bis heute hat niemand Verantwortung für das Geschehene übernommen", sagt Ex- Ministerpräsidentin Hannelore Kraft kurz vor dem 10. Jahrestag im NRW-Landtag. Im Prozess sagen Männer aus, die viele Nebenkläger für mitverantwortlich halten: Rainer Schaller, Chef des Veranstalters Lopavent, der die Loveparade aus Berlin ins Ruhrgebiet holte, oder Adolf Sauerland, der 2012 abgewählte Duisburger Oberbürgermeister (OB). Sauerland betont in einem Interview mit der Rheinischen Post: "Ich habe immer gesagt, es liegt keine Schuld bei der Stadt Duisburg." Er habe die Loveparade nie gewollt.

Gabi Müller überzeugt er damit nicht: "Er war Oberbürgermeister. Wenn er nein gesagt hätte, was hätten die denn machen wollen?" Die Oberbürgermeisterin von Bochum sagte 2009 die Loveparade in ihrer Stadt ab - wegen Sicherheitsbedenken.

Politik direkt # Neu # Tragödie bei der Loveparade - Duisburg nach der Katastrophe # 29.07.2010

05:46

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"Die eigentlich Verantwortlichen standen nicht vor Gericht", erklären die Rechtsanwälte Gerhart Baum und Julius Reiter, die mehr als 80 Opfer und Hinterbliebene in ihrem Wunsch nach Aufklärung vertreten: "Am Ende steht grenzenlose Enttäuschung." Ihre Kritik richtet sich an Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei und Politik, die das Verwaltungsversagen nicht aufgedeckt hätten: "Wir schämen uns ... besonders gegenüber den ausländischen Mandanten: dass nun am Ende nicht in letzter Klarheit deutlich wurde, was zur Katastrophe geführt hat".

Der Überlebende Manfred Bauknecht sieht in der fehlenden Signalwirkung eine dritte Katastrophe: "Was ist denn passiert als Folge? Ein OB wurde abgewählt und die Loveparade findet nicht mehr im Ruhrgebiet und unter diesem Namen statt. Das ist alles, was nach dem Tod von 21 jungen Menschen geschehen ist. Und das in Deutschland."

Der NRW-Landtag will eine Kommission beauftragen, die neue Regeln für Großveranstaltungen ausarbeitet. Gabi Müller hofft, dass alle das "ganz ernst nehmen, widersprechen, wenn irgendwas nicht passt, und versuchen, es zu verhindern. Egal, welche Konsequenz man dann tragen muss".

Voller Zuversicht und Lebensfreude sei ihr Sohn Christian zur Loveparade in Duisburg gereist, sagt Gabi MüllerBild: DW/M. Grundmann

Vor seinem Aufbruch zur Loveparade in Duisburg stylte Gabi Müller ihrem Sohn die Haare, sie ist Friseurin. Mittags stellte sie Essen beiseite, falls er nach seiner Rückkehr noch Hunger hätte. Christian kam nicht zurück. Seine Freunde breiteten eine Jacke über seinen toten Körper und informierten seine Eltern. 

Nach dem Gedenken beim 10. Jahrestag will Gabi Müller ein paar Tage mit ihrer Mutter (86) wegfahren und zur Ruhe kommen: "Ich hoffe, dass es mich loslässt."

Auch zehn Jahre nach der Loveparade-Katastrophe wird in Duisburg der Opfer mit der "Nacht der 1000 Lichter" gedachtBild: Reuters/L. Kuegeler
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