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Der Lebensretter: 100 Jahre Insulin

Gudrun Heise
27. Juli 2021

Die Isolierung des Insulins vor einhundert Jahren ist eine der grössten Erfolge in der Medizingeschichte. Für Diabetiker ist die Gabe von Insulin lebenswichtig. Forscher versuchen, die Therapien weiter zu optimieren.

Injektion von Insulin mit einem Injektor
Bild: picture-alliance/imageBROKER/J. Tack

Der 27. Juli 1921 gilt als der Tag, an dem es den kanadischen Forschern Frederick Grant Banting  und Charles Best gelang, Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Hunden zu isolieren. Einen großen Anteil am Forschungsergebnis hatten auch J.R. MacLeod, der die Forschungsarbeit beaufsichtigte, und James Collip, der den Extrakt aus der Bauchspeicheldrüse so veränderte, dass er für klinische Versuchen eingesetzt werden konnte. Nur zwei Jahre später erhielten Banting und Macleod dafür den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.  

"Eine Therapie des Typ-1-Diabetes gab es nicht. Für viele Patienten war dies quasi ein Todesurteil", sagt Dr. Theresia Sarabhai vom Deutschen Diabetes-Zentrum und Universitätsklinikum Düsseldorf. Dort betreut sie klinische Untersuchungen wie die Deutsche Diabetes-Studie. "Im Schnitt konnten die Menschen vor 100 Jahren etwa zwei Jahre mit der Diagnose Typ-1 Diabetes leben. Die Patienten mussten eine rigorose Diät einhalten. Meistens sind sie dann an Mangelernährung gestorben." Schon damals habe man gewusst, dass die Erkrankung etwas mit der Bauchspeicheldrüse, dem Pankreas, zu tun hat. Aktuell leiden allein in Deutschland etwa acht Millionen Menschen unter einer Diabetesform.

Ein lebenswichtiges Organ

Eine der wichtigsten Aufgaben der Bauchspeicheldrüse ist es, Verdauungsenzyme zu produzieren. Diese Enzyme werden durch einen feinen Gang in Zwölffingerdarm geleitet, wo sie dann dem Nahrungsbrei zugesetzt werden. Außerdem ist die Bauchspeicheldrüse für Hormone zuständig. Dazu gehören Insulin und Glukagon, die den Blutzucker regulieren. Bei einem Diabetes ist die körpereigene Herstellung von Insulin gestört. 

Beim gesunden Menschen steuert das Insulin den Blutzuckerspiegel. Bei Menschen mit Diabetes aber funktioniert der Insulinhaushalt nicht richtig. Der Typ-1-Diabetes beginnt meist plötzlich in jüngerem Alter und ist durch einen ausgeprägten Insulinmangel gekennzeichnet, der zu erhöhtem Zuckergehalt im Blut führt. 

Der Typ-2-Diabetes hingegen beginnt meist schleichend und erst im Erwachsenenalter. Die Insulinproduktion ist verlangsamt, der Körper reagiert nicht so empfindlich auf Insulin, wird resistent.

Die ersten Insulinspritzen

Das erste Insulin war ein dicker bräunlicher Schleim, der durch riesige Spritzen mit Glasbehälter injiziert wurde. Im Januar 1922 konnte das Forscherteam zum ersten Mal einen Patienten mit Typ-1-Diabetes mit der Gabe von Insulin retten. Es war der erst 13-jährige Leonard Thompson. Eineinhalb Jahre hatte er an Diabetes gelitten bis er im Toronto General Hospital mit Rinderinsulin behandelt wurde.

Die Forscher beobachteten, dass der Harn des Jungen bereits Tage später frei von Zucker und Azeton war, den Stoffen, die für die Entwicklung eines Diabetes verantwortlich sind. Danach ging es unaufhaltsam weiter. Schon 1922 gründete der Senat der Universität Toronto ein Komitee, das die industrielle Herstellung von Insulin kontrollierte. 

Entwicklung in großen Schritten

Zunächst wurde Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Rindern und Schweinen gewonnen. Beide unterscheiden sich nicht gravierend vom menschlichen Insulin. Dieses chemisch produzieren zu können, sollte der nächste Schritt sein. Es war das sogenannte NPH-Insulin, ein menschliches Insulin, dem der Stoff Protamin zugesetzt wurde. Er führt dazu, dass sich die Wirkung zwar nur langsam entfaltet, dafür aber länger anhält. Das war 1946.

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Bei diesen Langzeitinsulinen musste genau berechnet werden, wie viel Insulin der Körper zu welcher Zeit braucht. "Langzeitinsulin bedeutet, dass eine Wirkung von bis zu 24 Stunden gewährleistet ist. Dazu mussten die Patienten zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Menge Kohlehydrat aufnehmen, um so den Insulinspiegel zu optimieren. Bis in die 1980er Jahre wurden die Patienten ganz strikt darauf eingestellt", erklärt Sarabhai. 

Menschliches Insulin statt tierisches

1982 gelang es Forschern, menschliches Insulin mithilfe gentechnisch veränderter Bakterien herzustellen. Es entspricht hundertprozentig dem menschlichen Hormon. Erst seit 1996 sind auch künstliche Insuline auf dem Markt. Ihr Vorteil: Sie wirken schneller als Humaninsuline.

"Die Gentechnik hat Möglichkeiten eröffnet, viele verschiedene Insuline zu entwickeln. Während der 1990er und der 2000er Jahre wurden dann die ersten schnellwirksamen Insuline entwickelt. Sie sind in ihrer Wirksamkeit unserem körpereigenen Insulin sehr ähnlich", sagt Sarabhai. Allen ist gemeinsam, dass die Patienten das Insulin regelmäßig und subkutan, also unter die Haut, spritzen müssen. 

Schnell wirkendes Insulin gesucht

Im Laufe der Jahre wurden die Methoden, dem Körper das lebenswichtige Insulin von außen zuzuführen, immer ausgefeilter. Die dicke Spritze mit dem Glaskolben gehörte längst der Vergangenheit an. Die Entwicklung von Insulinen ging weiter.

1996 kam das erste Insulinanalogon auf den Markt. Es ist ein künstlich hergestelltes und patentiertes Protein, das schnell wirkt. 2000 dann kam ein langwirkendes Analoginsulin. Durchschnittlich alle zwei Jahre entwickelten Forscher ein neues Insulinpräparat. 

Insulin in Form von Nasenspray

Für Patienten, die eine Resistenz gegenüber Insulin entwickelt haben, ist Nasenspray eine vielversprechende Alternative. Es erhöht die Empfindlichkeit gegenüber Insulin sowohl gegenüber dem körpereigenen als auch gegenüber dem verabreichten Insulin. Ein weiterer Vorteil: Es reduziert das Hungergefühl der Patienten. Sie essen weniger, können so ihr Gewicht besser in den Griff bekommen und den Blutzuckerspiegel senken. 

Zu diesem Ergebnis kam auch eine relativ kleine Studie mit 52 Teilnehmern in Tübingen. Dazu haben die Forscher 25 gesunde und schlanke Teilnehmer ausgewählt sowie zehn übergewichtige und 12 adipöse Probanden. Bei allen war das Hungergefühl der Testpersonen nach der Anwendung wesentlich geringer. Eine groß angelegte Studie soll jetzt weitere Erkenntnisse liefern. 

Künstliche Bauchspeicheldrüse

Eine andere mögliche Therapiemethode, die seit langem erforscht wird, ist die Möglichkeit einer künstlichen Bauchspeicheldrüse. Sie ist allerdings ausschließlich bei Typ-1-Diabetikern sinnvoll.

Dieses System ist kein Nachbau des natürlichen Organs, sondern eine kleine Pumpe. 

Befestigt wird sie über eine Art Pflaster, das unterhalb des Bauchnabels geklebt wird. Darunter ist eine sehr feine Injektionsnadel angebracht. Die Pumpe ist damit verbunden und passt in jede Hosentasche.

"Es gibt Pumpen, die man manuell einstellen muss und ihnen mitteilen, wann man wie viel isst, damit die richtige Menge Insulin verabreicht wird. Mittlerweile aber gibt es auch Pumpen, die schon halb automatisch arbeiten", erläutert Sarabhai. "Die können anhand sogenannter Glukose-Monitorgeräte messen, wie hoch der Blutzuckerwert ist und flexibler entscheiden, wie viel Insulin abgegeben werden muss." 

Mehr Unabhängigkeit

Jahrzehntelang mussten sich Betroffene immer nach ihrem Diabetes richten und entsprechend verhalten. Die Erkrankung hat ihr Leben bestimmt, angefangen mit den Werten des Blutzuckers, die der Patient über das Blut aus einer Fingerkuppe ermittelt.

"Wann muss ich essen? Wie viel muss ich essen? Mittlerweile gibt es Diabetes-Schulungen, in denen die Patienten gründlich über ihre Krankheit aufgeklärt werde werden Patienten mit eingebunden" sagt Medizinerin Sarabhai. "Sie werden gezielt darüber informiert, wie sie ihren Blutzucker selbst einstellen können. Eine Errungenschaft, die in den achtziger Jahren begann und maßgeblich zur Selbstbestimmung des Patienten beiträgt." Damit liegt die Therapie nicht mehr nur in den Händen des Arztes.

Diabetes

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Mit den neuen Therapiemethoden sind Menschen mit Diabetes heute wesentlich unabhängiger als noch vor einigen Jahren. Etliche sind beispielsweise erfolgreiche Sportler. Aber es gibt Berufe, die bei Diabetes absolut tabu sind. Menschen mit Diabetes können beispielsweise nicht als Pilot arbeiten oder als Feuerwehrmann. Das Risiko einer Unterzuckerung erscheint offenbar trotz hervorragender Medikamente noch immer zu hoch. 

Nicht so schnell wie das "Original" 

Die subkutane Zufuhr von Insulin hat sich bewährt, zumal es mittlerweile viele Möglichkeiten gibt, beispielsweise sogenannte Pens, also stiftartige Insulinspritzen. "Diese Pens sind sehr schmal und sehr diskret. Sie sind steril, und geben das Insulin schmerzfrei in das Unterhautfettgewebe ab. Es kann dann dort bis zu 36 Stunden wirken. Der Patient bringt das Insulin in seinen Körper ein, indem er auf einen Knopf drückt, der die Injektion dann automatisch über eine dünne Spritze auslöst.

Ein Problem aber bleibt nach wie vor bestehen: "Es dauert immer eine gewisse Zeit bis das Insulin in die Blutbahn gelangt. Genau das ist der Unterschied zu natürlich ausgeschüttetem Insulin. Unsere Bauchspeicheldrüse kann auf Schwankungen sofort reagieren, eine Injektion nicht bzw. es hängt vom Anwender ab", sagt Sarabhai. 

Vieles ist in der Erprobung

Viele verschiedene Therapie-Methoden sind in der Erprobung oder auch bereits im Einsatz. Dazu gehört auch ein Blutzuckermessgerät, das meist am Oberarm angebracht ist. Über Bluetooth teilt es dem Patienten mit, wie sein momentaner Blutzuckerwert ist. 

Vielversprechend ist auch ein Insulin, das an eine Trägersubstanz gekoppelt ist, an ein Eiweiß. Es wird ebenfalls in das Unterhautfettgewebe gespritzt. Das Insulin löst sich nur, wenn der Körper es braucht. Trotz aller Erfolge aber bleibt bislang ein Problem: "Was wir in Zukunft brauchen, ist eine noch bessere Blutzuckerkontrolle. Das können wir nur dadurch erreichen, dass das Insulin noch schneller an seinen Wirkungsort kommt als es schon jetzt der Fall ist", sagt die Diabetologin.

Eine von manuellen Eingaben autarke, künstliche Bauchspeicheldrüse könnte dabei helfen. Vieles in der Diabetes-Forschung wird in naher Zukunft über Algorithmen und Sensorik laufen. Das könnte die Therapie optimieren und so weit vorantreiben, dass der Patient sich keinerlei Gedanken mehr zu machen braucht und wesentlich mehr Freiheiten hat. 

Die richtige Einstellung des Blutzuckers und die richtige Menge an Insulin würden automatisch geregelt. "Aber damit es funktioniert, muss der Patient den Algorithmen auch vertrauen können" resümiert Sarabhai. 

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