1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

112 - Rettungsdienste schlagen Alarm

19. Dezember 2022

Viele Einsätze, wenig Personal: die Rettungsdienste in Deutschland kommen an ihre Grenzen. Wie konnte das passieren? Welche Auswege gibt es?

Rettungsdienst Notfallsanitäter Rettungssanitäter
"Uns rufen Menschen, die einsam sind und keine Kontakte haben."Bild: Thomas Bartilla/Geisler-Fotopress/picture alliance

Dreizehn Einsätze in 24 Stunden - Kathrin Möller hat eine intensive Schicht als Notfallsanitäterin hinter sich: "Die Belastung ist ziemlich hoch."

Möller ist seit 23 Jahren im Nordwesten Deutschlands im Rettungsdienst unterwegs. Die Belastung ist nicht nur bei ihr im Landkreis hoch - allgemein im Land ist die Lage des Rettungsdienstes so angespannt, dass Verbände vor dem Kollaps warnen. "Wir laufen Gefahr, dass das System der Notfallrettung in Deutschland zusammenbricht", warnt etwa Oliver Hölters von der Mitarbeiterseite der Arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas. "Die Bevölkerung fühlt sich sicher, weil ihnen versprochen wird, dass in nur wenigen Minuten überall in Deutschland Hilfe naht. Dieses Versprechen ist schon jetzt absehbar ein trügerisches Versprechen". 

Erst kürzlich trafen Einsatzkräfte nach einem Busunglück in Berlin verspätet am Unfallort ein, weil kein Rettungswagen zur Verfügung stand. Mehrere Probleme gleichzeitig machen dem Rettungsdienst zu schaffen: Laut Verbänden gibt es 20 Prozent mehr Einsätze als im Vorjahr, dazu kommen Personalmangel und Überbelastung der Rettungskräfte. Notfallsanitäter quittieren den Dienst, weil sie immer mehr Einsatzstunden schieben müssen. Außerdem gelangen auch Kliniken und Krankenhäuser an ihre Grenzen: auch hier fehlt Pflegepersonal, wodurch weniger Patienten aufgenommen werden können und an der Notaufnahme abgewiesen werden.

Kinderärzte im Krisenmodus

02:19

This browser does not support the video element.

Oliver Hölters ist Mitinitiator des "Bündnis pro Rettungsdienst", das sich gerade erst gegründet hat und dem noch fünf weitere Verbände angehören, darunter auch der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst. Dessen zweiter Vorsitzende Frank Flake, selbst langjähriger Notfallsanitäter und Dienststellenleiter, beschreibt die Lage im Gespräch mit der DW so: "Vor ein paar Jahren noch konnten Sie als Rettungsdienst in das nächstgelegene Krankenhaus fahren. Das können Sie jetzt unter Umständen nicht mehr, weil das Krankenhaus nicht mehr aufnehmen kann. Also müssen Sie weiterfahren, wodurch aus einem Einsatz, der eine Stunde dauern sollte, womöglich eineinhalb oder zwei Stunden werden. Zusammen mit den anderen Faktoren ist das am Ende ein Kreislauf, der das System immer weiter in den Kollaps treibt".

Notfallsanitäterin Kathrin Möller sieht diese Abwärtsspirale regelmäßig bei ihren Einsätzen. Von den dreizehn Einsätzen ihrer vergangenen 24-Stundenschicht waren nur zwei wirkliche Notfälle. Der Rest waren Bagatelleinsätze. "Kürzlich hatten wir einen jungen Mann Anfang 30, der hat uns gerufen, weil er eine Wimper im Auge hatte." Solche Einsätze, so Möller, raubten Zeit, kosten Energie und seien schlussendlich "unendlich frustrierend."

Viele Anbieter, wenig Klarheit

Diese Bagatell-Fahrten sind zahlreich - und sie binden das dringend benötigte Personal. Mehr als 30.000 Mal am Tag rückt der Rettungsdienst in Deutschland für Einsätze aus. Eine Studie im Auftrag der Bertelsmanns-Stiftung und der Björn Steiger Stiftung von April 2022 hat ergeben, dass ein Drittel dieser Einsätze keine Notfälle sind. Vielfach seien Rettungsdienste inzwischen "soziale Dienste", so Flake. "Uns rufen Menschen, die einsam sind und keine Kontakte haben. Wenn man die 112 ruft, kommen nette junge Menschen und sprechen mit einem. So weit ist es schon gekommen."

Frank Flake vom Deutschen Berufsverband Rettungsdienst setzt sich für Reformen einBild: Marcus Mueller-Saran/DBRD

In Deutschland gibt es eigentlich ein breitgefächertes Angebot: Hausärzte, Wochenendpraxen, Notaufnahmen in Kliniken, den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung, der unter der Rufnummer 116/117 erreichbar ist. Und die 112, unter der der Rettungsdienst im Idealfall in wenigen Minuten beim Patienten sein kann.

Aber so breit gefächert das Angebot auch ist und in manchen Ballungsgebieten auch durchaus ein dichtes Netz ausmacht, so intransparent ist es auch. "Im Moment sind Patientenströme völlig ungesteuert, jeder macht, was ihm gerade in den Sinn kommt", sagt Flake. Bedeutet: wenn ein Patient die 112 ruft, kommt der Rettungsdienst, auch wenn sich vor Ort herausstellt, dass es sich nicht um einen lebensbedrohlichen Notfall handelt.

Reform auf Eis

Ideen, das verkrustete System zu reformieren, gibt es viele: eine davon ist die zentrale gemeinsame Leitstelle der Nummern 112 und 116/117, die vorher die Fälle aussiebt, die keine Notfälle sind und an andere Praxen weiterleitet. So ein System gibt es zum Beispiel in Niederösterreich. Auch ein Ausbau der Telemedizin ist denkbar, bei dem Ärzte und Ärztinnen telefonisch eine erste Auskunft geben und eventuell Rezepte ausstellen können.

In manchen Gemeinden in Norddeutschland wird auch das Konzept des Gemeindenotfallsanitäters erprobt. Der soll den Rettungsdiensten die Fahrten abnehmen, die keine Notfälle sind - beispielsweise ältere Menschen, die verunsichert und einsam sind und deshalb die 112 wählen. Diese Pilotprojekte wurden bereits wissenschaftlich begleitet und es hat sich gezeigt: ein solcher Gemeindenotfallsanitäter entlastet tatsächlich das System.

In Niederösterreich koordiniert eine Leitstelle Notärzte und NotfallsanitäterBild: FLORIAN WIESER/APA/picture alliance

Flächendeckende Reformen und neue Konzepte wie dieses wurden jedoch dennoch noch nicht umgesetzt. Obwohl bereits vor der Corona-Pandemie ein Reformvorschlag des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn auf dem Tisch lag. Der sah beispielsweise eine gemeinsame Leitstelle aus 112 und 116/117 vor. Doch es gibt einen Knackpunkt, der jede Reform schwierig macht: Rettungsdienst ist in Deutschland Ländersache. Jedes Bundesland entscheidet also selbst, wie es seinen Rettungsdienst strukturiert.

Für Verbände wie "Bündnis pro Rettungsdienst" ein Bremser in der Krise. Beispielsweise könnten Gemeindenotfallsanitäter nicht flächendeckend eingeführt werden, weil das Rettungsdienstgesetz (das jedes Bundesland einzeln abschließt) die Einsetzung und Finanzierung nicht hergibt. "Die einzige Lösung, die umsetzbar wäre, ist neue Rettungswagen anzuschaffen. Obwohl jeder weiß, dass das der völlig falsche Weg ist ", sagt Flake. Denn ohne Personal stehen die zusätzlichen Rettungswagen still. Tatsächlich aber reagieren Städte und Kreise häufig genauso auf Probleme im Rettungsdienst. So beschloss die Stadt Köln erst im vergangenen Jahr für über 18 Millionen Euro, 85 neue Rettungswägen anzuschaffen.

Länder wollen Oberhand

Die Reform von Spahn sah vor, den Ländern einige Befugnisse zu entziehen. Zusammenschlüsse wie Bündnis pro Rettungsdienst wollen noch einen Schritt weiter gehen: das Grundgesetz müsse geändert werden. Denn im Moment ist der Rettungsdienst laut Gesetz lediglich eine Transportleistung und nicht Teil der Notfallversorgung. So hat der Bund keinen Zugriff und kann beispielsweise auch keine Gemeindenotfallsanitäter einsetzen. Um das zu ändern, müsste das Grundgesetz geändert werden – wozu die Bundesländer zustimmen müssten. Und dagegen wehren sie sich.

So sagte die niedersächsische Sozialministerin Carola Reimann zu den Reformplänen: " Das bedeutet, dass es zu zentralen Vorgaben des Bundes kommt und wir keine differenzierten örtlichen Lösungen entwickeln können. Laut Grundgesetz sind aber die Länder für den Rettungsdienst zuständig. Und das ist so auch sinnvoll und richtig: Den Anforderungen vom Harz bis zur Küste wird man mit der Landesgesetzgebung nun mal am besten gerecht. Denn die örtlichen Gegebenheiten sind weder in Deutschland, noch in Niedersachsen einheitlich."

Die Reform liegt auf Eis, die neue Bundesregierung hat sie auch im Zuge einer nun angestrebten Krankenhausreform bislang nicht wieder aus der Mottenkiste hervorgeholt.

Und so bleibt der Rettungsdienst ein Flickenteppich in Deutschland. Das geht so weit, dass die Hilfsfrist, also die gesetzliche Vorgabe, wann ein Rettungsdienst beim Patienten sein soll, variiert. In Nordrhein-Westfalen sind es zwölf Minuten, in Hessen sind es zehn Minuten. Abgesehen davon, dass diese zwei Minuten Varianz medizinisch nicht erklärbar sind, werden diese Fristen immer seltener eingehalten. In Sachsen-Anhalt schaffte es der Rettungsdienst im vergangenen Jahr nur in 83 Prozent der Fälle in der vorgegebenen Frist zum Patienten. Der Rest musste warten - auch wenn das potenziell lebensbedrohlich werden kann.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen