1914: Mit Hurra in den Krieg
1. August 2014 Patriotisch, obrigkeitsgläubig und religiös soll sie sein. Rebellieren und sich ausprobieren darf die Jugend vor 100 Jahren nicht. Einerseits ist man früh erwachsen, doch juristisch gesehen erst mit 21 Jahren volljährig. Politisch mitbestimmen darf man sogar erst ab 25 - allerdings gilt das nur für die männliche Hälfte der Bevölkerung. Frauen haben kein Wahlrecht.
Arbeiterkinder müssen schon mit 12, 13 Jahren bis zu zehn Stunden täglich arbeiten, um die Familie durchzubringen. Viele Mädchen werden als Dienstmädchen ausgebeutet, in manchen Fällen auch sexuell durch den eigenen Dienstherren. Töchter aus besseren Kreisen werden früh auf die Ehe vorbereitet. Nach der Schulzeit gehen sie auf ein Pensionat, wo sie Umgangsformen und Hauswirtschaft erlernen. Einen eigenen Beruf anzustreben ist unerwünscht.
Eine Generation entdeckt sich selbst
Ein wachsender Teil der Jugend will das nicht mehr mitmachen. Sie beginnt, sich zu emanzipieren. In einer Berliner Schülerzeitung von 1913 heißt es: "Wir dürfen nicht mehr so viel falsches Mitleid mit unseren Eltern haben. Wir haben sie schon viel zu sehr verwöhnt."
Es entstehen zwei konträre Strömungen. An einem Gymnasium in Berlin-Steglitz gründet sich 1895 der "Wandervogel". Eine Bewegung junger Leute, die mit Vorliebe durch die Natur wandern. Es sind meist Sprösslinge aus gutem Hause, die in die Welt losziehen, unter freiem Himmel kochen und schlafen, laut Volkslieder singen und auf der Laute Lieder klampfen. Zu Spitzenzeiten hat der Wandervogel rund 10.000 Mitglieder.
Der Obrigkeitsstaat lässt sie gewähren, revolutionäres Potenzial geht von den Wandervögeln kaum aus. Anders die Jugend in den Arbeitervereinen. Sie werden unterdrückt, weil sie dem politischen Gegner, den Gewerkschaften und der SPD, nahestehen.
Zwischen Kriegssehnsucht und Kriegsangst
Das Deutsche Reich ist auf dem Weg zur Weltmacht - wirtschaftlich, wissenschaftlich und militärisch. Doch die politische und die soziale Entwicklung hinken hinterher. An der Spitze des preußisch geprägten Ständestaates steht der Kaiser, Wilhelm II. Der Adel besetzt die wichtigen Posten in Verwaltung und Militär. Die Herkunft zählt. Das aufstrebende Bürgertum stellt die überkommenen Strukturen ebenso in Frage wie die Arbeiterschaft.
Über allem schwebt der drohende Schatten des Krieges. Viele sehnen sich danach. Zum Beispiel die Militärs, die ihre neuen Waffengattungen endlich ausprobieren wollen. Nationalisten und Imperialisten auch: Sie wollen Deutschland den ihrer Meinung nach gebührenden Platz im Reigen der Weltmächte sichern - den damals so viel zitierten "Platz an der Sonne".
Ein regionaler Konflikt eskaliert zur globalen Katastrophe
Am 28. Juni tötet ein serbischer Attentäter den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau. Der regionale Konflikt zwischen Serbien und Österreich-Ungarn eskaliert zu einer internationalen Krise, in dessen Sog alle damaligen europäischen Großmächte geraten.
Das Schlimme: Die Militärs - nicht nur in Deutschland - sitzen dem Trugschluss auf, der Krieg sei ein kurzer Waffengang, Weihnachten werde man wohl wieder zuhause sein. Sie alle unterschätzen die mörderische Kraft der neuen Waffen: Maschinengewehre, Artillerie, Panzer. Das Ergebnis: Stellungskrieg, Materialschlachten, Giftgas. Der Erste Weltkrieg ist der erste industrialisierte Krieg der Menschheitsgeschichte. Aus einem regionalen Konflikt wird ein Weltkrieg, der vier Jahre dauert und 17 Millionen Tote fordert.
Eine Generation zieht in den Krieg
Die nationalistisch gesinnte Presse und die deutsche Regierung heizen nach dem Attentat von Sarajewo die Stimmung nationalistisch auf. Deutschland sei bedroht, umzingelt von Feinden, Angriff sei die beste Verteidigung. Am 4. August 1914 hält der Kaiser im Berliner Reichstag eine Rede: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!" Die nationalkonservative Elite in Staat und Militär setzt auf den patriotischen Schulterschlusss aller Deutschen. Das zeitigt Wirkung: Sprösslinge aus der Mittel- und Oberschicht sehnen sich danach, es den "Feinden" Deutschlands zu zeigen. Sie melden sich reihenweise und ziehen mit viel Hurra in den Krieg.
Auch Frauen und Mädchen zieht es an die Front. Allein in Deutschland melden sich zwischen 100.000 und 120.000 Kriegskrankenschwestern freiwillig. 25.000 von ihnen erleben das Kriegsgeschehen beim Einsatz in der sogenannten Etappe, dem Gebiet zwischen der unmittelbaren Front und der Heimat, hautnah mit.
Allen Freiheitsidealen zum Trotz: Auch die Jugendlichen des Wandervogels melden sich in Scharen freiwillig zum Kriegsdienst. Viele Arbeiterkinder hingegen stehen dem Krieg eher ablehnend gegenüber. Es ist nicht ihr Krieg, sondern der von denen da oben. "Nieder mit dem Krieg" - unter diesem Motto ziehen im Juli 1914 Hunderttausende deutsche Jugendliche zum Protest auf die Straße. Dann werden die Antikriegsdemos verboten.
Erwachsen werden an der Front
An der Front setzt schnell die Ernüchterung ein: Den jungen Männern, teils Kinder noch, geht auf, dass sie nur "Kanonenfutter" sind. In diesem Krieg ist der Typus des Kriegsfreiwilligen nicht mehr zeitgemäß. Nötig sind gut ausgebildete, technisch versierte Soldaten.
Entsprechend hoch sind die Opferzahlen unter den Kriegsfreiwilligen: Jeder vierte Wandervogel stirbt, unter den deutschen Studenten ist es jeder fünfte. Wer den Krieg überlebt, trägt Verletzungen an Leib und Seele davon. Jeder zweite Soldat wird verwundet (gemessen an der Zahl der Behandlungsfälle), viele sind auf das Schlimmste entstellt. Das Seelenleid lassen unzählige Tagebücher und Fotos erahnen. Vor allem aber die mehr als 28 Milliarden Feldpostbriefe, die deutsche Soldaten in die Heimat schicken.
Zum Weiterlesen:
Fred Grimm: "Wir wollen eine andere Welt." Jugend in Deutschland 1900-2013, Haffmanns & Tolkemitt, Berlin 2010
Ernst Piper: Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs, Propyläen, Berlin 2013