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20er-Jahre-Revival auch bei der Berlinale

Jochen Kürten
21. Februar 2020

Bei der Berlinale wird ein Film wiederaufgeführt, der seine Weltpremiere vor 96 Jahren erlebte: "Das Wachsfigurenkabinett". Der legendäre Stummfilm erinnert die Menschen einmal mehr an die legendären 1920er Jahre.

	
Berlinale Das Wachsfigurenkabinett
Bild: Deutsche Kinemathek

Überall wird gerade an die Zwanziger Jahre erinnert. Sie sind, zumindest aus kultureller Sicht, das berühmteste Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts. Das gilt vor allem für Deutschland: In jenem Jahrzehnt feierten Literatur und Theater, Tanz, Kunst und vor allem das Kino Höhepunkte künstlerischen Schaffens. Insbesondere der deutsche Expressionismus entwickelte ungeheure Strahlkraft weit über die Landesgrenzen hinaus.

Die 1920er Jahre bieten sich für zahlreiche historische Vergleiche an

Die Erinnerung an das Jahrzehnt wird, gerade in diesen Wochen und Monaten, noch aus einem anderen Grund beschworen. Es war das Jahrzehnt der "Weimarer Republik", in der deutsche Demokratie gelebt wurde. Zu Beginn des darauffolgenden Jahrzehnts ergriffen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht und setzten demokratische Spielregeln außer Kraft - mit fatalen Folgen für Millionen Menschen.

Die '20er-Jahre werden derzeit überall gefeiert - so auch in der Sky-Serie "Babylon Berlin"Bild: picture-alliance/dpa/Sky/X Filme/F. Batier

Später wurden die '20er Jahre oft als "Tanz auf dem Vulkan" umschrieben: Die Menschen feierten und probierten sich aus, überschritten Grenzen, reizten alle möglichen Formen künstlerischen Schaffens aus. Später sollten sie ja nicht mehr dazu kommen, so diese Interpretation - weil die braunen Machthaber in Deutschland Freiheit und Kunst ein Ende setzten. Doch es ist eine Sichtweise von Historikern und Kulturwissenschaftlern, über die noch heute gestritten wird: Ahnten die Menschen damals tatsächlich, was 1933 kommen sollte? Feierten sie deshalb so intensiv?

Vor 100 Jahren waren die Verhältnisse in Deutschland anders

Auch über andere Vergleiche wird heute wieder diskutiert: Erinnern die '20er Jahre mit der Radikalisierung politischer Parteien, mit Ausschreitungen und Attentaten nicht an heute? Auch hier gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Die einen sehen starke Parallelen gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. Andere weisen auf große Unterschiede hin: So sei die soziale Lage der allermeisten Menschen in Deutschland heute viel besser als in den 1920er Jahren - um nur ein Gegenargument zu nennen.

Kühne expressionistische Studiobauten - Szene aus "Das Wachsfigurenkabinett" Bild: Deutsche Kinemathek

Zurück zur Kultur. In einem sind sich Historiker und Wissenschaftler unterschiedlicher Couleur einig: Die 1920er Jahre boten eine Hoch-Zeit kulturellen Schaffens. Insbesondere der Film feierte in Deutschland Triumphe. Daran erinnert in diesen Tagen die weltweit erfolgreiche Serie "Babylon Berlin", aber auch die 70. Berlinale. Bei der steht eine Neuverfilmung des 1929 erschienenen berühmten Großstadtromans "Berlin Alexanderplatz" auf dem Programm. Zuvor feiert die restaurierte Fassung eines der legendärsten Stummfilme jener Zeit Weltpremiere: Paul Lenis "Das Wachsfigurenkabinett" aus dem Jahre 1924.

Ein Dichter auf Abwegen - die drei Phantasiewelten im Wachsfigurenkabinett

Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Dichters, der auf einem Jahrmarkt ein Wachsfigurenkabinett besucht, von dessen Figuren er sich inspirieren lassen will. Es sind vornehmlich drei Tyrannen, mit denen er sich beschäftigt: der Mörder Jack the Ripper, Zar Ivan der Schreckliche sowie der abbasidische Kalif Harun al Raschid. Der junge Dichter denkt sich hinein in das Leben der Tyrannen - der Film erzählt das in drei Episoden, in denen er tief eintaucht in unterschiedliche Epochen und Zeiten.

Mühsame Rekonstruktion - das deutsche Original des Films verbrannte 1925Bild: Deutsche Kinemathek

"Das Wachsfigurenkabinett" fasziniert bis heute durch phantasievolle Regie, das expressive Spiel seiner Hauptdarsteller (Emil Jannings, Conrad Veidt, Werner Krauß), vor allem aber durch die Ausstattung: "Regisseur Paul Leni war auch Produktionsdesigner, und das spielt ja für den expressionistischen Film eine außergewöhnliche Rolle", erzählt Rainer Rother von der Deutschen Kinemathek im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er verweist auf die überragende Bedeutung der Dekors und Studiobauten in den Filmen jener Zeit: "Es gibt kaum einen anderen Film in den '20er Jahren, der spektakulärere Schauplätze hat als 'Das Wachsfigurenkabinett'!"

Der deutsche Stummfilm beeinflusste das Hollywoodkino der Zeit 

Lenis Film entspricht, nach heutigem Denken, durchaus dem Blockbuster-Kino Hollywoods: Fantasy und Historienfilm, eine wilde Zeitreise, kombiniert mit Grusel und Horror, dazu eine Prise Romantik und Liebe. Das alles mit den Zutaten des deutschen Expressionismus versehen: Die phantasievollen Studiobauten sogen die damaligen Zuschauer in unterschiedliche Phantasiewelten. Möglich machte das vor allem die für damalige Verhältnisse kühne Tricktechnik.

Individuelle Ängste und Horrorvisionen - eingefangen in phantastischen Bildwelten Bild: Deutsche Kinemathek

Und doch brach Leni damals, Mitte der '20er Jahre, mit der ernsten Seriosität des frühen deutschen Expressionismus, der in legendären Filmen wie "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) oder "Nosferatu - eine Symphonie des Grauens" (1922) Triumphe auf der Kinoleinwand gefeiert hatte: "'Das Wachsfigurenkabinett' steht sowohl für Höhepunkt und Ende expressionistischer Architektur", sagt Rother. Der Film verfüge über ironische Stilmittel, präsentiere seine Handlung dem Zuschauer auch augenzwinkernd. Damit setzte er sich von frühen expressionistischen Werken ab.

Auferstanden aus Filmruinen: "Das Wachsfigurenkabinett"

Auch dadurch wirkt der Film heute noch modern. Unterstützt wird die Wirkung durch die Präsentation der restaurierten Fassung des Films bei der Berlinale. Das deutsche Original verbrannte zwar 1925. Die Filmwissenschaftler haben sich aber in den vergangenen Jahren auf eine Kopie des "British Film Institute" stützen können, diese bestmöglich ergänzt und digital bearbeitet.

Der Friedrichstadtpalast als stimmungsvoller Ort der Berlinale-Premiere des Films "Das Wachsfigurenkabinett" Bild: picture-alliance/imageBROKER/P. Seyfferth

Beim Festival findet die Aufführung im Friedrichstadtpalast mit neu eingespielter Musik statt, die auch moderne Elemente und Instrumente integriert hat: ein überwältigendes Klang- und Seh-Erlebnis. "Ein Wiedersehen mit diesem Film lohnt sich auf jeden Fall, weil die optischen Qualität viel, viel besser ist, als dass vor der Restaurierung der Fall war", zeigt sich Reiner Rother sehr zufrieden mit der Arbeit der Film-Restauratoren.

Erinnerungen an ein Jahrzehnt: Die Kultur der 1920er Jahre 

Ein paar Tage nach der Berlinale-Weltpremiere von "Das Wachsfigurenkabinett" folgt ein weiterer denkwürdiger filmhistorischer Geburtstag. Genau vor 100 Jahren fand die Uraufführung des berühmtesten Films des deutschen Expressionismus statt: "Das Cabinet des Dr. Caligari". Und dann bewirbt sich die Neuverfilmung von "Berlin Alexanderplatz" bei der Berlinale um einen Goldenen Bären. Die '20er Jahre sind bei der 70. Ausgabe der Berliner Filmfestspiele sehr präsent - und erinnern die Besucher aus aller Welt an die ganze künstlerische Vielfalt deutscher Kultur eines vergangenen Jahrzehnts, die sich auch zum Exportschlager entwickelte.

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