1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Musik

1989: Revolution der Clubkultur

Stuart Braun nf
2. November 2019

Der Fall der Berliner Mauer war nicht nur eine politische Wende, sondern auch der Beginn einer Clubkultur mit weltweiter Strahlkraft. 30 Jahre später bewirbt sich Berlins Clubszene sogar um Anerkennung durch die UNESCO.

Ausstellung No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989
Bild: Ben de Biel

"Nach dem Fall der Mauer war es ein Prozess des Wieder-Zusammenwachsens, ein Prozess der Rückkehr als eins." So beschreibt Dr. Motte, DJ und Gründer der Love Parade, die Entstehung einer "neuen Kultur" auf den Tanzflächen des wiedervereinigten Berlin. Als Dr. Motte im Juli 1989 die erste Love Parade auf dem "Ku'damm" (die Straße "Kurfürstendamm" in West-Berlin) veranstaltete, wurde sie - unter dem Motto "Friede, Freude, Eierkuchen" - als politische Demonstration angemeldet.

Er und die 150 Menschen, die durch die Stadt tanzten, hatten weder eine Ahnung, dass bald die Mauer fallen - noch, dass die erwachende elektronische Musikszene auf den Straßen des wiedervereinigten Berlin bald Millionen Menschen zusammenbringen würde.

Dr. Motte im April 2000 - der Erfinder der Love Parade heißt eigentlich Matthias RoeinghBild: picture-alliance/Berliner Zeitung

Drei Jahrzehnte später erinnert sich Dr. Motte in der Nähe seines Studios im Berliner Stadtteil Wedding noch gut an alles: wie schnell es 1989 ging, dass sich die Bewohner der Stadt versammelten, um sich gemeinsam zu Acid-House zu bewegen. Bereits am Donnerstag, dem 9. November - in der Nacht, in der die Mauer fiel - überquerten ostdeutsche Fans der Clubmusik (die sie bis dahin nur im West-Berliner Radio hören konnten) die Grenze und drängten sich ins "Ufo", einen bekannten Kreuzberger Club. Ab diesem Moment habe die integrative Clubbewegung immer wieder Barrieren niedergerissen, um "für eine bessere Welt zu tanzen", wie es Dr. Motte ausdrückt.

Dr. Motte: "Das Beste, was uns je passiert ist"

Zum neuen Zuhause der erwachenden elektronischen Tanzmusik Berlins wurden nach dem Mauerfall die vielen verlassenen Gebäude, eine ungeregelte Grauzone: In den riesigen postindustriellen Räumen schien alles möglich zu sein. Epische Techno-Clubs wie das "E-Werk" und später das "Berghain" fanden etwa in ehemaligen Kraftwerken Unterschlupf. "Die Mauer fiel, und wir fanden plötzlich neue Räume, um unsere eigene Lebensweise zu schaffen", sagt Dr. Motte über das gesetzlose Grenzgebiet zwischen zwei bisher voneinander abgeschnittenen Welten. "Es war das Beste, was uns je passiert ist. Das kann man sich gar nicht vorstellen."

Nachdem Dr. Mottes Freunde eine verlassene Fabrik mit Stromanschluss an der Spree gefunden hatten, nahm Anfang der 1990er Jahre der Club "Planet" seinen Anfang. Bald tanzten hunderte Techno-Fans auf den illegalen Partys. Künstler(innen) wie Danielle de Picciotto, damals Partnerin von Dr. Motte und Mitbegründerin der Love Parade, präsentierten dort Dekorationen und Installationen zur Schaffung imaginärer Welten.

Sven Väth: "Überall dieses Gefühl der Gemeinschaft"

Bereits 1990 hatte "Planet" einen Wagen auf der Love Parade. Unter dem Motto "Die Zukunft gehört uns" versammelten sich am 7. Juli 1990 schon etwa zweitausend Menschen. "In Berlin gab es diese Vorfreude, überall dieses Gefühl der Gemeinschaft", erinnert sich der Frankfurter DJ und Techno-Pionier Sven Väth an das Jahr, in dem auch er den Ku'damm entlang tanzte (unser großes Bild oben zeigt ihn 1992, Väth ist stehend ganz links zu sehen).

Einer der Floors im "Tresor" (2013) - 2007 ist der Club in ein Kraftwerk an der Spree umgezogen Bild: Giesemann/Schulz

1991 entdeckte der Inhaber des "Ufo", Dimitri Hegemann (der 1982 das bis heute bestehende Berliner Experimentalmusik-Festival "Berlin Atonal" ins Leben gerufen hatte) einen verlassenen Bank-Tresorraum unter dem zerstörten Kaufhaus Wertheim nahe dem ehemaligen Todesstreifen. Dort gründete er den Club "Tresor" und ein gleichnamiges Label. Dort wurde bald der Track "Der Klang der Familie" veröffentlicht, produziert von DJ und Produzent "3phase" zusammen mit Dr. Motte. Er wurde zum Soundtrack dieser Zeit.

Besondere Nächte im Club Tresor

Eingang zum Club "Tresor" in den 90er JahrenBild: Martin Eberle

Der Tresor wurde schnell zu einer wichtigen Drehscheibe für den aufkommenden Detroiter Techno-Sound. "Die Leute waren so offen für das, was wir taten", erinnerte sich Blake Baxter, der selbsternannte "Prince of Techno", der Anfang der 1990er Jahre aus Detroit nach Berlin kam, um im Tresor zu spielen.

"In den USA bekamen wir diese Art von Liebe nicht, weil die Leute für so etwas noch nicht bereit waren", erklärt Baxter in der Dokumentation "SubBerlin: The Story of Tresor". "Die Leute kamen aus ganz Europa und fragten sich, was hier los ist", erinnert sich Dr. Motte. "Die Musik war ganz besonders. Die Atmosphäre war ganz besonders. Die Menschen, die dort arbeiteten, waren ganz besonders. Die Location war ganz besonders. Das war alles neu. Es war noch nie zuvor passiert."

Räume zum experimentieren

"Es war wie, als wenn sich Nord- und Südkorea jetzt wiedervereinigen - und alle jungen Leute anfangen würden, gemeinsam zu einer neuen Art von Musik zu tanzen." So beschreibt Felix Hoffmann, Chefkurator der Ausstellung "No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 - Today" die Initialzündung für die Berliner Clubkultur-Revolution. Die Schau ist noch bis zum 30. November in der Galerie C/O Berlin zu sehen.

"16_Marco, Insel der Jugend, 1991" von Tilman Brembs Bild: Tilman Brembs

Als Hoffmann 1997 als Kunststudent nach Berlin kam, "gab es dieses Gefühl immer noch", sagt er. Nomadische Clubs besetzten noch immer temporäre Räume, darunter die "Kunst & Technik" in einem ehemaligen Bunkerbau im Berliner Museumsviertel. Der Club kombinierte Installationen, Performances und hämmernden Techno. Ein Reporter der New York Times berichtete 1999, "Kunst & Technik" zeige, "dass in dieser Stadt gerade jetzt alles möglich ist". In diesem Jahr kamen 1,5 Millionen Menschen zur Love Parade.

Queer Techno

Die Ausstellung "No Photos on the Dance Floor!" versucht, Bilder einer Kultur zusammenzutragen, von der zwar Film- und Foto-Aufnahmen existieren - in der es aber verpönt war und bis heute ist, Bilder von Menschen in heiligen Clubräumen zu machen. Den Organisatoren gelang es aber, seltene Bilder von Fotografen wie Wolfgang Tillmans zu finden - aus den LGBTI-Clubs, die für die Berliner Tanzmusikkultur so zentral wurden.

Mehr zum Thema: Die 90er in Berlin: "Bunt, laut und einmalig"

"Outside Snax Club, 2001" von Wolfgang TillmansBild: Wolfgang Tillmans

Tillmans' Außenaufnahme einer Clubnacht namens "Snax" aus dem Jahr 2000 zeigt nicht nur, wie die queere Szene auch temporäre Veranstaltungsorte im ehemaligen Ostberlin nutzte (hier: ein ehemaliges Bahnhofsgebäude, in dem sich der Club "Ostgut" befand), sondern sie zeigt auch die Fundamente dessen, was zum "Berghain" wurde - dem legendären Tempel des Techno, in dem bis heute noch "Snax"-Nächte stattfinden.

Weltbekannter Techno-Tempel: Die Warteschlange vor dem Berghain heuteBild: picture-alliance/imagebroker

Es ist kein Zufall, dass der Name Berghain - gemäß seiner Wurzeln - die Namen der beiden Stadtbezirke Kreuzberg und Friedrichshain auf beiden Seiten der Spree kombiniert. Um ein Zeichen für die Toleranz Berlins zu setzen, schloss sich der Club 2018 mit 70 anderen Veranstaltungsorten zusammen und stellte einen riesigen City-Rave auf die Beine - das Ganze, um sich einer Zusammenkunft der politisch weit rechts stehenden Partei AfD zu widersetzen.

Berliner Clubkultur: bald Immaterielles UNESCO-Kulturerbe?

Nach Angaben des Branchenverbands "Clubcommission Berlin" generieren die Tanzclubs derzeit etwa 1,5 Milliarden Euro (1,66 Milliarden Dollar) pro Jahr. Dennoch, so Motte, müsse Berlins einzigartige elektronische Musik- und Clubkultur vor Bauträgern und Stadterneuerungen geschützt werden. Deshalb werde "Rave The Planet", eine von Dr. Motte mitgegründete neue gemeinnützige Gesellschaft, ihre Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO im Jahr 2021 beantragen.

Clubszene Berlin

05:16

This browser does not support the video element.

Die Elektronische Musikszene in Berlin habe sich etwas Besonderes erhalten, sagt auch die australische DJane Claire Morgan, die seit 2012 in Berlin lebt und regelmäßig in Clubs wie dem Berghain oder "://about blank" auflegt. "Berlin hat noch mehr Raum und Freiheit als die meisten anderen Großstädte", glaubt sie. "Die Community für elektronische Musik ist stark, vielfältig und entwickelt sich ständig weiter." 

Und noch immer gebe es keine Kameras auf der Tanzfläche, betont Morgan - und verweist auf das Berlin-weite Verbot von Telefonen und Kameras an Orten, die das "schöne Ethos des Clubbing hochhalten - als sichere Bereiche, um Musik zu erleben und sich mit anderen zu verbinden".

Übrigens: 30 Jahre nach der friedlichen Revolution wird Dr. Motte am 9. November passenderweise einen Gig im "Tresor" spielen. Der Club ist 2007 zwar in ein Kraftwerk an der Spree umgezogen - eingeladen sind aber trotzdem alle.

Stuart Braun Australischer DW-Journalist und Buchautor.
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen

Mehr zum Thema

Weitere Beiträge anzeigen