1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

2020 als Moment der Wahrheit für Selenskyj

Roman Goncharenko
13. Dezember 2019

Beim Normandie-Gipfel in Paris bekam der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj viel Anerkennung für seine Friedensbemühungen. Bald entscheidet sich, wie weit er gehen will - und kann.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj
Bild: picture-alliance/ZUMA Wire//S. Glovny

Es ist Freitag, drei Tage vor dem Ostukraine-Gipfel in Paris. Der ukrainische Präsident tritt bei einer Talkshow mit dem Titel "Wolodymyr Selenskyj auf der Suche nach Frieden" auf. Der 41-jährige Staatschef marschiert energisch, in olivgrüner Hose und Fleecejacke, ins Studio und entschuldigt sich mit einem Lächeln für sein Aussehen: "Ich hatte keine Zeit mich umzuziehen, ich war an der Front." In Paris wolle er herausfinden, "ob wirklich alle diesen traurigen Krieg schrittweise beenden wollen", sagt er. Gemeint ist Russlands Präsident Wladimir Putin, dem Selenskyj beim Gipfel im so genannten Normandie-Format an der Seite der Bundeskanzlerin Angela Merkel und des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum ersten Mal persönlich begegnen würde.

Frieden als Wählerauftrag

Am Ende dauert das Treffen am 9. Dezember im Élysée-Palast mehr als neun Stunden, inklusive Pressekonferenz. Man einigt sich auf einen neuen Anlauf beim Waffenstillstand, einen Austausch von Gefangenen bis zum Jahresende sowie Truppenabzug an drei weiteren Standorten bis März 2020. Zentral dürfte jedoch das Bekenntnis zu den Minsker Vereinbarungen sein, die den Krieg im ostukrainischen Kohlerevier Donbass bereits 2015 hätten beenden sollten und bisher nicht umgesetzt sind.

Frieden war eines der zentralen Versprechen des früheren Fernsehproduzenten, Schauspielers und Comedians Selenskyj, der vor einem knappen Jahr - am 31. Dezember 2018 - seine Kandidatur angekündigt hatte. In seinem Wahlprogramm versprach er, "den Krieg zu beenden, die temporär besetzten Gebiete zurückzuholen und den Aggressor zu zwingen, für die Verluste zu entschädigen." 

Selenskyj gewann die Präsidentenwahl im Frühling mit einem Rekordergebnis. Auch seine neue Partei "Diener des Volkes" profitierte von seinem Schwung und bekam im Sommer eine absolute Mehrheit. Ausgestattet mit einer Machtfülle, die kaum ein ukrainischer Präsident vor ihm hatte, steht Selenskyj seitdem unter dem Erwartungsdruck seiner Landsleute. Die Sehnsucht nach Frieden ist in der ukrainischen Gesellschaft nach fünf Jahren Stellungskrieg sehr groß. 71 Prozent der Befragten nannten in einer Umfrage Ende August Waffenstillstand als die wichtigste Aufgabe für den neuen Präsidenten.

Bewegung im Friedensprozess

Bewegung hat es tatsächlich gegeben, vor allem auf der ukrainischen Seite und in eine Richtung – zurück. Selenskyj brach mit der martialischen Rhetorik seines Vorgängers Petro Poroschenko. Vor dem Normandie-Gipfel in Paris ging er auf Russlands Forderung ein und ordnete Truppenabzug an drei vereinbarten Standorten an, ohne auf kompletten und dauerhaften Waffenstillstand zu warten. Und schließlich ging Selenskyj auf eine Bedingung Wladimir Putins ein und ließ die Ukraine ein Bekenntnis zu der so genannten "Steinmeier-Formel" unterzeichnen, die den faktischen Autonomie-Status der Separatistengebiete um Donezk und Luhansk in Bezug auf Kommunalwahlen regelt. Unter anderem dafür bekam der ukrainische Präsident in Paris Lob von Merkel und Macron. 

Selenskyj und EU-Ratspräsident Donald Tusk besuchen das Luhansk-Gebiet in der Ostukraine (Juli 2019)Bild: Reuters/Ukrainian Presidential Press Service

Gleichzeitig inszenierte sich der Medien-Profi Selenskyj gerne als Friedenspräsident. Ende Oktober strahlten mehrere Fernsehsender einen knapp 23-minütigen Dokumentarfilm aus mit dem Titel "Nur noch ein Schritt bis zum Frieden". Die offenbar von der Präsidialverwaltung in Auftrag gegebene Produktion porträtierte Selenskyj als volksnahen Friedensbringer. "Schaffen Sie für uns Frieden", flehte ihn im Film eine ältere Frau an.

Wahlen in Donezk und Luhansk als Sprengstoff 

Zwar attestieren die meisten Beobachter Selenskjy den unverfälschten Willen, den Krieg zu beenden, sein Spielraum aber ist begrenzt. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass Selenskyj nur dann Erfolge verbuchen kann, wenn Putin mitspielt, wie etwa beim Gefangenenaustausch im September. Es war ein ungleicher Austausch, denn Russland ließ unter anderem ukrainische Seeleute frei, die es laut der Entscheidung eines UN-Gerichts ohnehin hätte freilassen müssen.

Warten auf die Angehörigen: Vor dem Austausch von Gefangenen am Flughafen von Kiew im September 2019Bild: Reuters/G. Garanich

Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft fürchtet eine schleichende Kapitulation vor Russland und geht auf die Straße, wie vor dem Gipfel in Paris. Auch Oppositionsparteien versuchen, mit Protesten Druck auf Selenskyj aufzubauen.

Sollte der in Paris vereinbarte Waffenstillstand halten, wäre es der größte Erfolg für Selenskyj. Zahlreiche solche Versuche sind schon gescheitert. Doch danach dürfte für den ukrainischen Präsidenten der Moment der Wahrheit kommen. Die Ukraine hat sich in Paris erneut verpflichtet, politische Aspekte der Minsker Vereinbarungen umsetzen. Einen Schritt in diese Richtung tat das Parlament am Donnerstag, als es das Gesetz über Sonderstatus für Separatistengebiete um ein Jahr verlängerte. Dabei muss schon bald ein neues Gesetz mit den Separatisten ausgehandelt und verabschiedet werden, was in der Ukraine stark umstritten ist.

Die Vorbereitung von Wahlen in den Separatistengebieten, die Selenskyj für Ende Oktober 2020 anstrebt, dürfte den ohnehin brüchigen Frieden gefährden. Als Poroschenko im August 2015 versucht hatte, Verfassungsänderungen voranzutreiben, gab es blutige Proteste vor dem Parlament in Kiew, und es starben Menschen.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen