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Politik

274 Millionen Menschen brauchen Hilfe

15. Dezember 2021

Besonders in Afghanistan, Äthiopien und dem Jemen brauchen die Menschen Unterstützung, sagt das International Rescue Commitee in seiner Emercency Watchlist.

Äthiopien | Binnenvertriebene
Binnenvertriebene in ÄthiopienBild: Privat

Wer wissen will, wie es um Afghanistan steht, sollte Nazo fragen. Die 37-Jährige geht als freiwillige Gesundheitshelferin in ihrer Gemeinde von Tür zu Tür. Sie weiß um die Sorgen von Müttern wegen der Unterernährung ihrer Kinder, um die extrem schwierige Lage der Familien. "Im Moment ist die Situation in unserem Land sehr schlecht. Wir haben wirtschaftliche Probleme und es mangelt uns an medizinischer Versorgung. Früher gab es Medikamente in den Kliniken. Jetzt gibt es keine Vorräte mehr. Die Ärzt*innen und das allgemeine Personal bekommen kein Gehalt, und wir haben keinen Strom. Es fehlt uns im Grunde an allem."

Gesundheitshelferin Nazo untersucht ein Mädchen in AfghanistanBild: KELLIE RYAN/IRC

Die Afghanin hat ihre Erfahrungen mit dem International Rescue Committee, kurz IRC, geteilt, einer internationalen Nichtregierungsorganisation für humanitäre Hilfe.

Die zehn tödlichsten Länder der Welt

Das IRC gibt seit über zehn Jahren seine Emergency Watchlist mit den 20 schlimmsten humanitären Krisen der Welt heraus. In diesem Jahr wird die Liste von Afghanistan angeführt, gefolgt von Äthiopien und Jemen auf Platz drei. Unter den Top 10 folgen fünf weitere afrikanische Länder sowie Myanmar und Syrien. 274 Millionen Menschen weltweit brauchen humanitäre Hilfe – eine Steigerung um 63 Prozent in gerade einmal zwei Jahren.

Afghanistan vor dem wirtschaftlichen Kollaps

02:30

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In Afghanistan sind mehr als die Hälfte der Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, 59 Prozent. Knapp die Hälfte weiß nicht sicher, wo die nächste Mahlzeit herkommen soll. Den Menschen geht das Geld aus, während gleichzeitig alles teurer wird, besonders Lebensmittel und Medikamente.

Das Land stürzt derart ins Elend, dass sich Deborah Lyons, Sonderbeauftragte des Generalsekretärs und Leiterin der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA), Mitte November vor dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen zu einer eindringlichen Warnung veranlasst sah: "Das afghanische Volk jetzt im Stich zu lassen, wäre ein historischer Fehler - ein Fehler, der schon einmal gemacht wurde und tragische Folgen hatte". Lyons wies darauf hin, dass sich das afghanische Volk durch die Machtübernahme der Taliban im Stich gelassen, vergessen und durch Umstände bestraft fühle, für die es nichts könne.

Sanktionsdruck trifft die Falschen

Lyons nannte auch den ihrer Meinung nach wichtigsten Grund für die Misere. Die seien "größtenteils auf die Finanzsanktionen zurückzuführen, die die Wirtschaft lahmgelegt hätten". Vor der Machtübernahme der Taliban waren 75 Prozent der öffentlichen Ausgaben am Hindukusch aus Geldern der Entwicklungszusammenarbeit finanziert worden. Nachdem die Islamisten in den Präsidentenpalast in Kabul eingezogen waren, wurden diese Mittel eingefroren. Mit nachvollziehbaren Absichten, aber verheerenden Konsequenzen für die Menschen.

Kein Geld, keine Medikamente – eine Klinik in Afghanistan

03:04

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"Man kann sagen, dass diese Art der Sanktionen die Bevölkerung letztlich schwerer trifft als die eigentlichen Ziele der Sanktionsmaßnahmen", urteilt Ralph Achenbach, Geschäftsführer von IRC Deutschland, im Gespräch mit der DW. "Es fühlt sich so an, als sei mit dem militärischen Rückzug im August auch ein wirtschaftlicher Rückzug gefolgt. Und das darf nicht sein. Dem darf auf gar keinen Fall ein humanitärer Rückzug folgen!" 

Die humanitäre Katastrophe in Afghanistan ist nach Ansicht Achenbachs wenigstens zum Teil menschengemacht. Vor allem aber ist sie "abwendbar und vermeidbar". Und damit wird die Krise in Afghanistan zu einem Paradebeispiel für das Systemversagen, das das IRC mit dieser Watchlist anprangern will.

Systemversagen in vier Punkten

Für die IRC-Watchlist ist in Afghanistan wie auch in den anderen Krisenländern der Welt nicht einfach nur eine Serie unglücklicher Umstände für das Elend der Menschen verantwortlich. Das Ausmaß und die Art der humanitären Notlagen stellen nach Meinung der Berichtsautoren ein Systemversagen dar. Das internationale System genügt nach IRC-Ansicht an gleich vier Punkten nicht mehr den Erfordernissen der Zeit und der Menschen.

"Das ist einmal das diplomatische Versagen: Konflikte werden einfach nicht mehr diplomatisch gelöst", führt IRC-Man Achenbach aus.  "Dazu kommt staatliches Versagen. Die Staaten in den Konfliktregionen kommen ihren Pflichten gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht mehr nach. Ein rechtliches Versagen ist der dritte Punkt: Das Rechtssystem - und dazu gehört auch das internationale Völkerrecht - schützt die Zivilbevölkerung nicht mehr. Letztlich kommt ein operatives Versagen hinzu: Die humanitären Maßnahmen können diese immer größer werdenden Lücken nicht mehr schließen." 

Dürre und schwerer Hunger im Süden MadagaskarsBild: Tsiory Andriantsoarana/WFP/dpa/picture alliance

Im Ergebnis stehen laut IRC-Watchlist eine Rekordzahl an Menschen am Rande einer Hungersnot: Über 40 Millionen Menschen in 43 Ländern. Und mehr Menschen als je zuvor waren gezwungen, aus ihrer Heimat zu fliehen: 80 Millionen. Neben wirtschaftlichen, sozialen oder klimatischen Gründen wichtigste Ursache sowohl für Hunger wie für Flucht: Krieg und Gewalt.

Das IRC beklagt dabei die wachsende Zahl internationalisierter Bürgerkriege. Interne Konflikte, in die sich wie etwa im Jemen mehrere ausländische Akteure einmischen – was die Konfliktlösung massiv erschwert.

Krisenregion Sahel

Sechs der Top 10-Länder der Watchlist sind afrikanische Länder. Auf Platz vier steht zum Beispiel Nigeria. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas hat fast halb so viele Einwohner wie die gesamte EU, verfügt über reiche Ölvorkommen und weist seit Jahren ein hohes Wirtschaftswachstum auf - und doch leben 70 Prozent der Nigerianer unterhalb der Armutsgrenze. Im gesamten Land wächst die Unsicherheit. Seit über zwölf Jahren toben militante Konflikte in der Sahelregion im Nordosten. Inzwischen brennt es auch in anderen Landesteilen.

Ein nigerianischer Soldat patroulliert durch ein zerstörtes Dorf in Nordost NigeriaBild: STEFAN HEUNIS/AFP

Am Beispiel von Nigeria könne man zwei Ursachenkomplexe ausmachen, erklärt Ralph Achenbach. "Da gibt es einmal die menschengemachten Gründe: Gewalt und Vertreibung. Dazu kommen Naturkatastrophen: Die Anfälligkeit für Dürren, für Überschwemmungen und andere Formen extremer Wetterbedingungen ist durch die Klimakrise noch mal forciert worden, da sehen wir quasi den zweiten Treiber von Krisen und Konflikten." 

Brandbeschleuniger Corona

Die Corona-Pandemie hat auch die reichen Länder der Welt schwer getroffen. Weltweit aber hat sich Covid-19 als eine Art Brandbeschleuniger humanitärer Krisen erwiesen, führt Achenbach aus. "Die Schwächsten der Welt - darunter sind eben vertriebene Menschen, Geflüchtete, Binnenflüchtlinge, Menschen in Krisensituationen - sind von den Auswirkungen der Pandemie am stärksten betroffen."  

Zugleich sind sie am wenigsten durch Impfung geschützt, zeigt der IRC-Bericht auf. Unter den Einwohnern der Top 10-Watchlist-Länder sind es gerade einmal drei Prozent. Vor allem aber leiden die Menschen unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Zudem wurden in einigen Ländern Schulen geschlossen, war in vielen Flüchtlingslagern kein Unterricht mehr möglich. Ohne Bildung aber droht eine ganze Generation weiter in Armut stecken zu bleiben.

"Was uns bei dem Stichwort Covid noch ganz besondere Sorge bereitet, ist das Schicksal von Frauen und Mädchen" ergänzt IRC Deutschland-Geschäftsführer Achenbach. "Die Einschränkungen und Lockdowns haben einen Schub geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit sich gebracht – und ihren Zugang zu Dienstleistungen weiter beschränkt."  

Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zum Einsatz für Frieden, Freiheit, Menschenrechten, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Nachhaltigkeit bekannt. Um diesen selbst formulierten Ansprüchen gerecht zu werden, sollte die Regierungskoalition nach Ansicht Achenbachs dem Systemversagen in Sachen Diplomatie entgegenwirken. Durch Investition von "Zeit und Anstrengungen, um die langwierigen Konflikte dieser Welt einer diplomatischen Lösung näher zu bringen".

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