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Demokratie in Hongkong: Keine Spur der Protestkultur übrig

S. Ripley Text | May James Fotos, beide berichten aus Hongkong
30. Juni 2025

Die Menschen in Hongkong gingen am 1. Juli immer auf die Straßen, um mehr Bürgerrechte und Demokratie zu fordern. Seit Jahren ist die Demo verboten. Die Stadt ist anders geworden.

Hongkong 2025 | Alltag fünf Jahre nach dem nationalen Sicherheitsgesetz
Die Feierlichkeit zum 1. Juli ist vor allem nur eins: kommunistisch rotBild: May James/DW

"Über zehn Jahre lang stand der 1. Juli für Proteste und Demonstrationen, unter anderem für die allgemeinen Wahlen des Verwaltungschefs und des Stadtparlaments, für das friedliche Miteinander, Promis oder nicht, und für einen gemeinsamen Umtrunk oder ein Abendessen zum Abschluss des Tages. Es fühlte sich an, als würden wir von der Zivilgesellschaft aus eine bessere Gesellschaft aufbauen", erinnerte sich der 40-jährige Vinze aus Hongkong, der seinen richtigen Namen nicht nennen wollte. Er wollte nicht strafrechtlich verfolgt werden und vor allem nicht, dass die Staatsanwaltschaft aus seinen Äußerungen den Tatsachenbestand feststellen sollte, dass er die Staatssicherheit gefährde.

Die Stadtverwaltung ist in dem Gebäude untergebracht, das sich über der Stadt erhebtBild: May James/DW

Am 1. Juli 1997 wurde die chinesische Souveränität in Hongkong wieder herstellt, nachdem Großbritannien 99 Jahre lang in Hongkong, Kowloon und dem Neuen Territorium als Kolonialherr regiert hatte. Im Vergleich zum Festland-China ist Hongkong anders. Der Dialekt hier ist für einen Festlandchinesen nicht zu verstehen. Es gilt- wie in der Kolonialzeit - noch der Linksverkehr auf den Straßen Hongkongs. Die Steckdosen sind ebenfalls wie die in England. Und vor allem: Das Hongkonger Grundgesetz erlaubt ausdrücklich Direktwahlen für wichtige Verfassungsorgane wie das Parlament und den obersten Stadtverwalter. Das Grundgesetz sieht aber gleichzeitig keinen Zeitplan für Wahlen vor. In diesem Rahmen bekennt sich die chinesische Zentralregierung ausdrücklich zum völkerrechtlichen Abkommen mit Großbritannien und verspricht, im Rahmen der Politik "Ein Land, zwei Systeme" weitgehende Autonomie zu gewähren.

Der Marsch am 1. Juli war seit vielen Jahren eine Tradition, bei dem die Bürger von Hongkong ihre Bürger- und Wahlrechte einfordern. Doch 28 Jahre nach der Rückkehr Hongkongs wird heute die ehemalige Marschroute mit Gitternetzen und Warnhinweisen gesäumt;  wie "Kein Graffiti" oder "Videoüberwachung".

Ehemalige Protestrouten sind nun mit Gitternetzen gesäumt: Kein Graffiti und Videoüberwachung.Bild: May James/DW

Peking zeigt seine Muskeln. Hongkong ist nun Teil der Volksrepublik China, eines autoritär regierten Landes. Im Sommer 2020 peitschte die Zentralregierung eine kommunale Gesetzgebung durch das Pekinger Parlament. Das umstrittene Nationale Sicherheitsgesetz schränkt freie Meinungsäußerungen und die Pressefreiheit weiter ein. Im März 2024 verabschiedete dann das Hongkonger Parlament mit der prochinesischen Mehrheit die Novellierung des Grundgesetzes. Paragraf 23 ermöglicht die Strafverfolgung im Falle von "Hochverrat, Aufruhr und Verrat von Staatsgeheimnissen" mit mehr Polizeibefugnissen sowie nicht-öffentlichen Strafverfahren. Laut Regimekritikern soll dieser Paragraf alle kritischen Stimmen in Hongkong mundtot machen.

Für Verwaltungschef John Lee, der Polizeibeamter von Beruf war und es in seiner politischen Karriere zuletzt bis zum Chef der Staatssicherheit geschafft hatte, bedeuten diese Veränderungen jedoch, dass seine Stadt nun endlich zur "Normalität" zurückgekehrt sei. "Die Stabilität ist wiederhergestellt", sagte Lee.

Farbenfrohe pro-demokratische Botschaften waren an der Wand wie hier zu sehen gewesen. Heute ist es alles grau. An einer unauffälligen Stelle steht der Hinweis: "Plakatieren verboten" und "Kein Graffiti" Bild: May James/DW

"Ich habe 2020 aufgehört, zu der Demonstration zu gehen, als sie nicht mehr erlaubt war", sagt Vinze im DW-Interview. "Heute gibt es nur noch rote Fahnen zu den Feierlichkeiten am 1. Juli. Es ist ein Feiertag wie alle anderen. Die Menschen sind taub und müde. Rückblickend war es fast idealistisch, dass wir geglaubt hatten, die Regierung zu einer besseren machen zu können."

Nun wird am 1. Juli die chinesische Nationalflagge bei einer großen Feier am Victoria Harbour in Central, der Stadtmitte, gehisst. Der 1. Juli ist zugleich der Gründungstag der regierenden Kommunistischen Partei Chinas in Peking. Dieses Jahr findet die Zeremonie in Hongkong nur mit zugelassenen Gästen statt. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng. Einige künstlerische Darbietungen wurden bereits im Vorfeld für die TV-Ausstrahlung aufgezeichnet.

Hier weht auf dem Gelände der öffentlichen Schule Bui O die chinesische FlaggeBild: May James/DW

Eine Gruppe von Schülern berichtete, dass sie ins Stadion in Hung Hom gebracht wurden, auf der anderen Meeresseite vom Victoria Harbour, um eine Aufführung für den 1. Juli aufzunehmen. "Der Lehrer sagte, es würde kein Publikum geben. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng", sagte ein jugendlicher Darsteller. Eine Mitschülerin reagierte überrascht: "Wirklich? Ich wusste nicht, dass es für den 1. Juli ist." Ein anderer Schüler flüsterte fragend: "Moment mal, was ist das überhaupt mit dem 1. Juli?"

Big Brother: An touristischen Attraktionen wie hier am Avenue of Star im Stadtteil Kowloon mit Blick auf die Skyline auf der Hongkong Insel wird überall Videoüberwachung installiert Bild: May James/DW

In der ganzen Stadt füllen patriotische Parolen den öffentlichen Raum: an Verkehrsknotenpunkten sowie in Museen und Einkaufszentren. Durch die Meeresenge am Victoria Harbour wird ein Konvoi mit den Fischerbooten fahren. Pro-Peking-Anhänger werden dann die chinesischen und Hongkonger Fahnen am Ufer schwenken. Organisiert wird das Event vom Fischerverband, der eng mit Peking zusammenarbeitet. Der Verband darf laut Grundgesetz einen Abgeordneten für das Stadtparlament berufen. Zusammen mit anderen 27 Berufsverbänden machen die berufenen Parlamentsabgeordneten ein Drittel der Sitze aus, ohne Direktwahlen.

"Ich bin keine Chinesin, aber ich bin sehr stolz auf Hongkong und unterstütze seine Entwicklung als Teil Chinas", sagte eine berufstätige Mutter. Sie ist Anfang 40 und lebt seit über einem Jahrzehnt in Hongkong. "Das Konzept mit dem 'Ein Land' hat das Potenzial, echte Synergieeffekte und das Wachstum der Gemeinschaft zu fördern. Aber ich befürchte, dass die Art und Weise, wie das Nationale Sicherheitsgesetz durchgesetzt wird, letztendlich den Fortschritt Hongkongs bremsen könnte."

Vor dem Hauptquartier des Militärstützpunkts der Volksbefreiungsarmee fordert ein Transparent die Aufrechterhaltung des "Wohlstands" und der "Stabilität" Hongkongs, allerdings nicht mit den lokalen, sondern mit den amtlichen SchriftzeichenBild: May James/DW

10.200 Menschen wurden seit 2019 im Zusammenhang mit den pro-demokratischen Protesten festgenommen. Mehr als 300 wurden unter dem Vorwurf der Gefährdung der nationalen Sicherheit verhaftet. Auf 19 Personen, die meisten von ihnen Aktivisten im Exil, wurde ein Kopfgeld zu je einer Million Hongkong Dollar (umgerechnet 109.000 Euro) ausgesetzt. Sie sollen Staatsgeheimnisse verraten oder die Staatsgewalt untergraben haben.

Öffentliche Fahndungen nach RegimekritikernBild: May James/DW

Ihre Fahndungsfotos sind mit richterlichen Beschlüssen im Schaufenster neben einer Touristenattraktion ausgehängt und sie finden sich auch auf der Webseite des Polizeipräsidiums. Ein Tag vor der großen Feier am 1. Juli gab die letzte pro-demokratische Partei, die Liga der Sozialdemokraten Hongkongs, ihre Auflösung bekannt.

Am 30.06. kündigte die letzte demokratische Partei in Hongkong ihre Auflösung anBild: May James/DW

"Der politische Druck war enorm", sagt Parteichefin Chan Po-ying. "Es gab keinen anderen Weg." An anderer Stelle in der Stadt war ein Protestslogan zu sehen. Es ist zumindest sichtbar, dass der Slogan an der Wand gewesen war und nun mit Farben übermalt wurde. So bleibt er immerhin in der Erinnerung der Hongkonger.

Aus dem Englischen adaptiert von Dang Yuan