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Politik

Neuer Protest in Prag

Ian Willoughby ar
16. November 2019

Im November 1989 gingen Hunderttausende Tschechen für ein Ende der kommunistischen Herrschaft auf die Straße. Auch heute, 30 Jahre später, gibt es wieder Demos - aus ähnlichen Beweggründen. Von Ian Willoughby, Prag.

Samtene Revolution Prag (1989)
Proteste auf dem Prager Wenzelsplatz im November 1989Bild: Imago Images/CTK Photo

Am Anfang stand Gewalt: Der Volksaufstand in der Tschechoslowakei, der als "Samtene Revolution" in die Geschichte einging, formierte sich nach einem Zwischenfall in der Hauptstadt. Am 17. November 1989 griff die Bereitschaftspolizei Studenten brutal an, die es gewagt hatten, einen offiziell genehmigten Demonstrationsweg zu verlassen und in die Prager Innenstadt weitermarschierten. Geschürt von Gerüchten, ein Demonstrant sei dabei ums Leben gekommen, führte dieser Ausbruch der Gewalt dazu, dass sich ein Bürgerforum gründete und die Studenten anfingen, zu streiken.

Vit Pohanka, damals Absolvent der Palacký-Universität Olmütz, wurde in ein eilig gebildetes Komitee gewählt, um die Besetzung seiner Fakultät zu koordinieren. "Einige der anderen Organisatoren waren sich wirklich sicher, dass wir von der Uni fliegen und wahrscheinlich einige von uns sogar im Gefängnis landen würden", sagt Pohanka, der geplant hatte, nach seinem Abschluss in den Westen überzusiedeln. "Es gab Augenblicke in der ersten Woche, in denen ich echt Angst hatte."

Vit Pohanka (li.) während der Universitätsbesetzung: "Ich hatte echt Angst"Bild: Privat

Doch die anrollende Revolution gewann bald an Fahrt. Die Proteste gegen das Regime nahmen von Tag zu Tag zu, es fand ein Generalstreik statt. Am Ende trat das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei zurück und am 29. Dezember 1989 wurde Vaclav Havel zum Präsidenten gewählt, ein Dichter und Dissident, der bis Anfang jenes geschichtsträchtigen Jahres noch im Gefängnis gesessen hatte. Damit endeten in der Tschechoslowakei mehr als vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft.

Magdalena Platzova, damals Gymnasiastin, war während der Polizeieinsatzes am 17. November an vorderster Front dabei und demonstrierte wochenlang auf den Straßen von Prag. "1989 brach die Wirtschaft völlig zusammen. Für die Umwelt sah es katastrophal aus - im Grunde war die Tschechoslowakei ein vergiftetes Land", sagt Platzova. "Und dieser totalitäre und abgeschottete Staat verwandelte sich plötzlich in ein Land, in dem Dein Leben auf einmal sinnvoll erschien."

Für Magdalena Platzova war die "Samtene Revolution" die aufregendste Zeit ihres LebensBild: DW/I. Willoughby

Der damalige Studentenführer Pohanka beschreibt die so genannte "Samtene Revolution" als die aufregendste Zeit seines Lebens. "Ich war 23 Jahre alt und alles war möglich", sagt er. Alle seien sehr euphorisch gewesen.

Zurück auf die Straße

Die Euphorie von einst ist längst verklungen. Wieder gehen Tschechen in großer Zahl auf die Straße - diesmal nicht, um gegen ein Ein-Parteien-System zu protestieren, sondern weil sie das Gefühl haben, dass Opportunisten von einst nun an der Macht sind. Gemeint ist in erster Linie der Populist Andrej Babis, früher Mitglied der kommunistischen Partei. Heute ist der Multimilliardär tschechischer Ministerpräsident.

"Wir haben es immer noch mit dem Erbe der kommunistischen Führung zu tun", sagt Benjamin Roll. Der Student ist Vizevorsitzender von "Eine Million Momente für die Demokratie". Die Bürgerinitiative wurde gegründet, insbesondere in Opposition zu Babis.

Benjamin Roll auf der Narodni Straße, wo die "Samtene Revolution" begannBild: DW/I. Willoughby

Nach Angaben der slowakischen Stasiunterlagenbehörde war Babis informeller Mitarbeiter der tschechoslowakische Staatssicherheit StB. Außerdem wurde gegen ihn in Zusammenhang mit seiner Firma Agrofert ermittelt, der Vorwurf: EU-Subventionsbetrug. Mit seiner ANO-Partei steht Babis an der Spitze einer Minderheitsregierung, die auf die Unterstützung der heutigen Kommunistischen Partei angewiesen ist.

"Andrej Babis hat einen großen Interessenkonflikt und hält zu viel Macht in seinen Händen", sagt Roll. "Wir fordern den Rücktritt von Babis und von Justizministerin Marie Benesova." Sie wurde vom Premierminister ernannt, nur Tage nachdem Ermittler vorgeschlagen hatten, dass sich Babis wegen des EU-Subventionsbetrugsverdachts vor Gericht verantworten sollte. Regierungskritiker befürchteten, dass Benesova die Arbeit der Staatsanwaltschaft behindern könnte. Das Verfahren gegen ihn wurde inzwischen eingestellt.

Geist der Revolution

Im Juni folgten eine Viertelmillion Menschen dem Aufruf von "Eine Million Momente für die Demokratie" zur größten Demonstration seit 1989. Versammlungsort war die Letna-Ebene, ein Areal in der Nähe der Prager Burg, auf dem auch Großkundgebungen der "Samtenen Revolution" stattgefunden hatten. Nach Einschätzung von Benjamin Roll, 24 Jahre alt, Berufswunsch Pastor, sind die Anhänger seiner Bürgerinitiative vom Geist der "Samtenen Revolution" inspiriert. Die aktuelle politische Lage würde vielen Menschen ins Gedächtnis rufen, wofür sie 1989 gekämpft hätten. In der Kritik steht nämlich nicht nur der Regierungschef, sondern auch Präsident Milos Zeman, der als enger Verbündeter von Babis gilt und enge Beziehungen zu Russland und China pflegt.

"Eine Million Menschen für Demokratie" - hier in PragBild: picture-alliance/AP Photo/P. D. Josek

Viele Tschechen seien von der Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte enttäuscht, so Roll. "Viele Menschen sind wirklich arm - und dass es soweit kommt, haben sie nach der Revolution nicht erwartet." Tatsächlich hat eine Meinungsumfrage kürzlich ergeben, dass 38 Prozent der Tschechen über 40 Jahre glauben, dass ihr Leben vor dem Aus des kommunistischen Regimes besser war. Bei Leuten mit niedrigem Bildungsgrad vertreten sogar 52 Prozent diese Ansicht.

Der Soziologe Jan Hartl, der 1990 das erste Meinungsforschungsinstitut des Landes gründete, erklärt das Umfrageergebnis so: Viele ältere Tschechen, aus deren Sicht es früher besser war, hätten sich während der Kommunismuszeit ins Privatleben geflüchtet und ihre Energien auf das Leben in ihren Wochenendhäusern auf dem Land fokussiert. Sie hätten sich der Verantwortung fast komplett entzogen, so Hartl. Das kommunistische Regime war eines, in dem es keine Zeit und keine Verpflichtungen gab. Es gab keine großen Chancen, aber auch keine großen Strapazen."

Von einer durch Nostalgie beseelten Einschätzungen spricht Ex-Studentenführer Vit Pohanka. "Wenn man sich nur an die lustigen Dinge erinnert, die wir getan haben, wie Dates oder Musik hören, verstehe ich, dass man vielleicht denkt, dass das Leben besser war."

Jahrestag des Protestes

An diesem Wochenende hat "Eine Million Momente für die Demokratie" erneut Proteste gegen Ministerpräsident Andrej Babis geplant: An diesem Samstag gab es bereits eine Großdemonstration in Prag und am Sonntag, dem eigentlichen Jahrestag des Beginns der Revolution, sollen über 150 kleinere Aktionen im ganzen Land stattfinden. Der Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt: Wir wollen, dass die Leute sich an die 'Samtene Revolution' erinnern", sagt Benjamin Roll. "Wir machen keine weitere Revolution oder so etwas - wir versuchen tatsächlich, das zu bewahren, was 1989 erreicht wurde."

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