30 Jahre Srebrenica: Europas Schande
10. Juli 2025
Als die Truppen des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic im Juli 1995 den Völkermord an den Bosniaken aus der damaligen Enklave und UN-Schutzzone Srebrenica verübten, gingen die Bilder des Grauens und des internationalen Versagens fast sofort um die Welt: die Bilder der tausenden hilflosen Geflüchteten auf dem Gelände der UN-Basis in Potocari, die Bilder der Trennung von Frauen, Kindern und Männern, die Bilder des gedemütigten niederländischen UNPROFOR-Kommandanten, der Mladic zuprostete.
Es hatte in den Tagen vor dem Völkermord verzweifelte Botschaften von Amateurfunkern aus Srebrenica gegeben. Und noch während des Massenmordens berichteten die ersten überlebenden Zeugen des Todesmarsches von der Menschenjagd und den Gräueln in den Wäldern um Srebrenica.
Auch wenn die exakte zahlenmäßige Dimension des Verbrechens im Juli 1995 noch nicht feststand, so war doch bereits klar, dass mit Srebrenica der furchtbare Höhepunkt der serbischen Politik der ethnischen Säuberungen in Bosnien erreicht war. Dass dort eines der schlimmsten Verbrechen seit dem Holocaust verübt worden war. Ein Verbrechen zwar nicht unter vollständigem Mitwissen der Vertreter der internationalen Gemeinschaft, aber doch mit ihrer ahnungsvollen Duldung - in einer Zeit, als der Leitspruch der europäischen Erinnerungskultur längst lautete: "Nie wieder!"
Ein zweiter Leidensweg
In diesem Jahr werden sich am 11. Juli, dem Gedenktag des Völkermordes, voraussichtlich einige zehntausend Menschen in der Gedenkstätte Potocari bei Srebrenica versammeln - zum 30. Jahrestag werden so viele erwartet wie in keinem Jahr zuvor. Das 2003 eröffnete Srebrenica Memorial ist ein erschütternder, aber auch würdiger Ort des Gedenkens.
Auf dem Friedhof sind die Überreste von rund 7000 identifizierten Ermordeten der bisher 8372 namentlich bekannten Opfer des Völkermordes begraben. Es ist der wichtigste Trauerort für die überlebenden Angehörigen. Doch in die Würde des Gedenkens mischt sich für sie die Bitterkeit über vieles, was nach dem eigentlichen Verbrechen geschah - etwas, das man den zweiten Leidensweg nennen könnte.
Der Name des Ortes Srebrenica ist zu einer Chiffre des Verbrechens selbst geworden. Es herrscht ein breiter internationaler Konsens darüber, dass Srebrenica ein Völkermord war, nachdem das Kriegsverbrechertribunal ICTY dies in mehreren Urteilen festgestellt und ausführlich dokumentiert hat. Im Jahr 2024 erklärte die UN-Vollversammlung den 11. Juli zum Gedenktag des Völkermordes von Srebrenica und bestätigte damit noch einmal den Charakter des Verbrechens als Genozid.
Leugnung und Relativierung
Doch in Serbien und in der Republika Srpska. die verantwortlich für die Planung und Ausführung des Völkermords waren, sind die Leugnung und die starke Relativierung des Verbrechens heute Staatspolitik. (Die Republika Srpska ist eine der beiden Entitäten Bosnien und Herzegowinas und der Landesteil, in dem auch Srebrenica liegt.)
Das serbische Parlament verabschiedete 2010 eine Erklärung, die eine Entschuldigung für das Verbrechen von Srebrenica aussprach, allerdings ohne das Wort Völkermord zu verwenden. Inzwischen ist die serbische Politik unter dem Präsidenten Aleksandar Vucic selbst hinter diese Geste weit zurückgefallen.
Vucic war 1995 Informationsminister des Diktators Slobodan Milosevic und sagte am 20. Juli 1995 im Belgrader Parlament, während der Völkermord noch im Gange war, dass man "für jeden getöteten Serben hundert [bosniakische] Muslime töten" werde, wofür er sich noch immer nicht entschuldigt hat. Vucic verbreitet heute das Narrativ, dass in den Jugoslawien-Kriegen "alle Seiten gelitten" hätten, aber einzig die Serben nicht als Opfer anerkannt würden.
Kriegsverbrecher Mladic - für viele Serben ein Held
In der Republika Srpska berief deren Präsident Milorad Dodik eine Kommission unter der Führung des umstrittenen israelischen Holocaust-Forschers Gideon Greif ein, die den Völkermord 2021 in einem Bericht leugnete und die Zahl der Opfer stark in Zweifel zog. Das Gesicht des als Kriegsverbrecher verurteilten Ratko Mladic ist heute in der Republika Srpska und auch in Serbien vielfach auf Graffitis, Wandbildern, Plakaten und Fotos zu sehen - er gilt vielen Serben als Held.
Jedes Jahr ziehen nationalistische Serben an verschiedenen serbischen Feier- und Gedenktagen in Autokolonnen hupend oder mit lauter nationalistischer Musik am Denkmal vorbei. Bei den ersten Begräbniszeremonien nach der Jahrtausendwende wurden Überlebende, die ihre Angehörigen bestatteten, von serbischen Nationalisten angespuckt, ohne dass die Polizei dagegen einschritt. Die serbischen Bürgermeister Srebrenicas nach 1995 leugneten den Völkermord in der einen oder anderen Weise. Der gegenwärtige Bürgermeister Milos Vucic sieht seinen Wahlsieg im Oktober 2024 "auch als Antwort auf die UN-Resolution" einige Monate zuvor.
Gesetz gegen Völkermord-Leugnung
In die Reihe der Völkermord-Leugner hat sich auch der ungarische Premier Viktor Orban gestellt: Zusammen mit Serbien und Russland stimmte Ungarn im Juli 2024 als einziger EU-Mitgliedsstaat gegen die UN-Resolution zu Srebrenica.
Im Juli 2021 erließ der damalige Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, ein Gesetz gegen die Leugnung des Völkermordes von Srebrenica. Doch es dauerte knapp vier Jahre, bis im Mai 2025 erstmals ein Urteil gegen einen Völkermord-Leugner erging.
Nur eine einzige echte Entschuldigung
Von Seiten der internationalen Gemeinschaft gab es nur ein einziges Mal eine echte Entschuldigung für die Mitverantwortung an Srebrenica: im Juli 2022 von der niederländischen Regierung. Sie bat alle Opfer und Überlebenden des Völkermords um Vergebung dafür, dass "die internationale Gemeinschaft es versäumte, den Menschen von Srebrenica angemessene Hilfe zu leisten".
Es ist zwar nicht zweifelsfrei bewiesen, aber sehr wahrscheinlich, dass die internationale Gemeinschaft im Sommer 1995 von den konkreten Plänen ethnischer Säuberungen in Ostbosnien wusste und diese stillschweigend als Preis für einen Erfolg von Friedensverhandlungen hinnahm. Ein Eingeständnis dessen steht aus - auch wenn damals international vielleicht niemand den Völkermord vorausahnte.
Ohne festen Platz in Europas Erinnerungskultur
Für die Bosniaken ist das Gedenken an den Völkermord von Srebrenica eine tragende Komponente ihrer nationalen Identität und ein konstituierender Moment für ihren Staat. Allerdings reicht das Bewusstsein vieler bosniakischer Staatsvertreter meistens nicht weiter als bis zu einer pflichtschuldigen Anwesenheit in der Gedenkstätte Potocari am 11. Juli.
Die meisten Überlebenden des Völkermordes leben in bescheidenen, teils sehr ärmlichen und marginalisierten Verhältnissen. Nur überlebende Frauen, die keine überlebenden männlichen Verwandten mehr haben, erhalten eine staatliche Unterstützung. Alle anderen besitzen keinen rechtlichen Status als Überlebende und haben vom Staat bisher niemals Hilfe erhalten, weder materielle noch psychologische.
Am schwersten aber dürfte für die Überlebenden wiegen, dass Srebrenica auch 30 Jahre nach dem Völkermord und trotz der UN-Resolution von 2024 keinen festen Platz in der europäischen Erinnerungskultur hat. Beispielhaft dafür steht der europäische Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime. Er wird in der EU seit 2009 am 23. August begangen, dem Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes 1939. Unter anderem veröffentlicht die Europäische Kommission dazu jedes Jahr eine Erklärung. Srebrenica erwähnte sie darin bisher nicht.