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Schreiben bis zur Deportation

6. Dezember 2011

Briefe und Postkarten erzählen die wahre Geschichte einer jüdischen Familie während der NS-Zeit: Hamburger Eltern schreiben an ihren Sohn im schwedischen Exil. Ein Stück Erinnerungskultur, nachzulesen im Internet.

Postkarte an Walter Wächter im schwedischen Exil (Foto: Agentur Literaturtest, Berlin)
Bild: Agentur Literaturtest

Das Geheimnis war immer da. Bis zum Tod seines Vaters wusste Torkel S. Wächter, dass es bei ihm etwas gab, über das er nicht sprechen wollte, nicht sprechen konnte. "Ich habe verstanden, dass etwas in ihm verborgen war. Er hat das nonverbal übertragen", sagt der schwedische Schriftsteller heute, fast drei Jahrzehnte später.

Walter Wächter (r.) als junger MannBild: Agentur Literaturtest

Doch die wenigen Eckdaten, die der junge Torkel kannte, genügten, um nicht an das Tabu zu rühren, das über der Geschichte seines Vaters lag: Walter Wächter, 1913 als Sohn einer jüdischen Familie in Hamburg geboren und aufgewachsen, war noch während des Zweiten Weltkriegs aus Deutschland geflohen und hatte ein neues Leben in Schweden begonnen. Doch alle Versuche, darüber zu sprechen, scheiterten. Das Tabu überdauerte sogar den Tod Walter Wächters im Jahr 1983. Selbst den Nachlass mochte Torkel S. Wächter lange nicht genauer betrachten: "Ich wusste, dass es Material über sein Leben gab, aber es ist beinahe so, als ob man sehr private Sachen sichtet. Ich hatte fast das Gefühl, dass mein Vater mich sehen konnte!" Aus Respekt und auch aus Angst vor dem, was zu entdecken war, ließ er die Unterlagen sechzehn Jahre lang unberührt liegen.

Deutsch lernen, Sütterlin lesen

Erst 1999 traute er sich an die Dokumente heran. Doch das meiste Material, darunter die 32 Postkarten, die Torkel S. Wächter inzwischen ins Netz gestellt und umfassend kommentiert hat, war auf Deutsch geschrieben – und dann auch noch in Sütterlin, einer altertümlichen Schrift, die auch in Deutschland nur noch die wenigsten lesen können. Der schwedische Autor fand Hilfe bei Hamburger Rentnern: Sie halfen bei der Transkription. "Und dann habe ich Deutsch gelernt, so dass ich die Postkarten und das andere Material lesen konnte."

Bild: Agentur Literaturtest

Doch mit den Postkarten allein, die größtenteils Wächters Großeltern Minna und Gustav aus Hamburg an Vater Walter nach Schweden geschickt hatten, wäre die Rekonstruktion der Familiengeschichte niemals gelungen. Torkel S. Wächter arbeitete sich durch hunderte von Briefen und Tagebuch-Eintragungen hindurch – und unternahm zahllose Recherchen in Archiven. So wurde immer deutlicher, welche deprimierende Realität sich sogar hinter scheinbar unbeschwerten Mitteilungen verbarg:

"Meine Lieben! Zunächst wünsche ich Euch recht angenehme Feiertage", schreibt Minna Wächter Ende 1940 an ihren Sohn Walter und dessen Frau in Schweden. "Seid Ihr nun schon in ein neues Haus gezogen? Dora geht Sonntag mit Jessie ins Thalia-Theater und sieht Schneewittchen". Was sie nicht schrieb, wird im Internet-Kommentar erklärt: Minna kann ihre nichtjüdischen Verwandten Dora und Jessie nicht begleiten, da Juden der Besuch von Theatern, Konzerten und Kinos verboten ist.

Nur von Hoffnung schreiben

Doch diese Realität wird in Postkarten und Briefen totgeschwiegen. "Ich denke, das lag an der Zensur", sagt Torkel S. Wächter, "aber die Briefe hatten auch den Zweck, den Mut nicht zu verlieren. Darum hat man nicht viel über sein Unglück geschrieben, sondern mehr über Hoffnungen. Über Hoffnungslosigkeit habe ich mehr in Tagebüchern gelesen."

Torkel S. WächterBild: Jurek Holzer/Oskarp Mask

Eine Tagebuch-Eintragung seines Vaters hat er auch in das Internet-Projekt "32 Postkarten" aufgenommen: Am 5. Januar 1941 notiert Walter Wächter: "In zwei Monaten sind es nun 3 Jahre her, daß ich aus dem Zuchthaus entlassen wurde und Deutschland verlassen mußte. Und was waren das für 3 Jahre! Wie reich an äußeren Geschehnissen und wie arm an innerem Erleben!
Wie trübe und hoffnungslos macht sich heute jede Zukunftsperspektive. Durch halb Europa bin ich gehetzt worden, um jetzt nun schon über 2 Jahre in Schweden als Landarbeiter zu leben und dazu noch in einem höchst zweifelhaften gesundheitlichen Zustand. Italien, Jugoslawien, Ungarn, wieder Deutschland, das erbittert gehasste und verzweifelt geliebte, dann beinahe Dänemark und endlich Schweden. Und in 3 Jahren kollektivem Leben ein Maß an menschlicher Vereinsamung wie es im individualistischen bürgerlichen Leben nie vorstellbar erschien."

Rettung durch deutsche Beamte

Es sind Momente, in denen Torkel S. Wächter einen unbekannten Vater entdeckt: "Ich kenne meinen Vater als kämpfenden Menschen! Er war politisch sehr aktiv, er war in der SPD und dann in der sozialistischen Arbeiterpartei. Dieselbe Partei, in der Willy Brandt auch gewesen ist. Er war ein Mensch, der viel Interesse an der Gesellschaft hatte. Auf einem Bauernhof zu arbeiten, hat ihm wirklich nicht gefallen."

Blieben in Hamburg, schrieben nach Schweden: Walters Eltern Minna und Gustav WächterBild: Agentur Literaturtest

Doch Wächter stieß auch auf positive Überraschungen: Am Tag nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 erreichte sein Vater Dänemark. "Aber er wurde nicht ins Land gelassen, wegen eines dänischen Beamten. Da hätte er fast aufgegeben. Er ist ins Wasser gesprungen, aber zwei deutsche Bahnbeamte haben ihm geholfen, ohne Geld nach Hamburg zurückzufahren. Dort hat er neues Geld von seinem Vater bekommen, und ist nach Schweden gekommen."

Deportation um 12 Uhr mittags

Geschichte in SütterlinBild: Agentur Literaturtest

Die Geschichte seiner Familie im Internet öffentlich zu machen, ist für Torkel S. Wächter auch ein Experiment mit dem, was er "simulierte Echtzeit" nennt: Jede Postkarte hat er auf den Tag genau siebzig Jahre nach ihrem Entstehen ins Netz gestellt. Die letzte datiert vom 6. Dezember 1941. Es war der Tag, an dem seine Großeltern mit der Eisenbahn nach Riga deportiert wurden. "Es war mittags gegen zwölf, als der Zug losfuhr", sagt er nachdenklich im Gespräch, am 6. Dezember 2011, wenige Minuten bevor die Uhr auf 12:00 springt.

Seine Großeltern wurden in Riga ermordet. Doch das Internet-Projekt, sagt Torkel S. Wächter, "hat mir geholfen, die Geschichte besser zu verstehen. Das wollte ich auch mit anderen teilen". Tatsächlich entsteht online immer wieder direkter Kontakt mit den Lesern – anders als Wächter es aus seiner schriftstellerischen Arbeit kennt. "Das ist wirklich etwas sehr Schönes", sagt er. "Besonders groß ist das Interesse aus Deutschland. Ich denke, dass viele Menschen dort ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Das gilt für jüdische und nichtjüdische Familien. Wir haben alle etwas durch den Krieg verloren".

Autorin: Aya Bach
Redaktion: Marlis Schaum