35 Jahre Wiedervereinigung: Wo steht Deutschland?
2. Oktober 2025
Elisabeth Kaiser stammt aus Gera im Bundesland Thüringen. Als die Ostbeauftragte der Bundesregierung 1987 geboren wurde, war Deutschland noch geteilt. Zwei Jahre später fiel die Berliner Mauer und am 3. Oktober 1990 war die kommunistische DDR endgültig Geschichte.
"Die Zeit der Wiedervereinigung habe ich nicht bewusst erlebt, doch die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern haben mich geprägt", schreibt Kaiser im pünktlich zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin vorgelegten Jahresbericht, in dem jüngere Menschen aus Ost und West zu Wort kommen. Für die 38-jährige Sozialdemokratin (SPD) ist es eine Premiere, denn sie amtiert erst seit Mai 2025, als die neue Bundesregierung gebildet wurde.
Ist die junge Generation in Deutschland einheitlich aufgewachsen?
Die Politik- und Sozialwissenschaftlerin thematisiert in der aktuellen Bilanz schwerpunktmäßig, wie jüngere Menschen das seit 35 Jahren vereinte Deutschland erleben. Und schon die Frage im Titel lässt erahnen, dass es da wohl durchaus Unterschiede zwischen West und Ost gibt: "Aufgewachsen in Einheit?"
Formal lautet die Antwort "ja", denn es gibt nur noch einen deutschen Staat. "Wir Kinder der späten 1980er und der 1990er sind die erste gesamtdeutsch sozialisierte Generation", heißt es in Kaisers Vorwort zum Jahresbericht. "Trotzdem ist 'der Osten' für junge Menschen, die dort aufwachsen, bis heute weit mehr als eine Himmelsrichtung. Er ist ein Raum, der Identitäten prägt und Biografien beeinflusst", betont sie.
Ostdeutsche Identität ist stärker ausgeprägt als westdeutsche
In dieser Hinsicht nimmt Kaiser, die an der Universität Potsdam im ostdeutschen Bundesland Brandenburg studiert hat, Unterschiede zu Jüngeren aus dem Westen wahr. "Viele junge Menschen, die aus dem Gebiet der alten Bundesrepublik stammen, können mit der Zuschreibung westdeutsch nichts anfangen - zumal, wenn sie an der Küste oder in Alpennähe leben. Demgegenüber identifizieren sich junge Ostdeutsche weitaus häufiger als Ossis."
Dafür gibt es aus Sicht der Ostbeauftragten gute Gründe. Denn auch wenn junge Deutsche seit dreieinhalb Jahrzehnten in ein und demselben Land aufwüchsen, unterschieden sich die Rahmenbedingungen dieses Aufwachsens eben doch bis heute in gewichtigen Punkten. "Das gilt insbesondere außerhalb der ostdeutschen Metropolen."
Weniger Einkommen, mehr Sozialhilfe
Kaiser verweist auf den sogenannten Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung. Der zeige, dass in Kleinstädten und ländlichen Regionen die Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln und medizinischen Einrichtungen nicht mehr umfassend gesichert sei. Über ähnliche Entwicklungen berichten auch wirtschaftlich schwächere Regionen in Westdeutschland. Kaiser weist darauf hin, dass die Menschen im Osten unterdurchschnittlich wenig verdienten und überdurchschnittlich oft auf Sozialleistungen angewiesen seien.
"Auch sind die Vermögen im Osten niedriger als im Westen", ergänzt die SPD-Politikerin. Hinzu käme, dass die Alterung der Bevölkerung in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands weit vorangeschritten sei. Der Anteil junger Menschen liege weit unter dem Bundesdurchschnitt. "Das prägt den Lebensweg vieler Ostdeutscher bis weit ins Erwachsenenalter hinein." Denn sie könnten sich viel seltener auf finanzielle Unterstützung der Eltern verlassen als Westdeutsche.
Reicher Westen, armer Osten
Bei der Vorstellung ihres Jahresberichts vertieft Kaiser diesen Aspekt: "Bis heute sind junge Menschen im Osten benachteiligt, weil Vermögen hauptsächlich durch Erbschaften weitergetragen wird." Die vom Statistischen Bundesamt für 2024 veröffentlichten Zahlen sind eindeutig: Demnach haben die Finanzämter in den westlichen Bundesländern über 106 Milliarden Euro vererbtes oder verschenktes Vermögen besteuert, im Osten einschließlich Berlin weniger als sieben Milliarden.
Pro Kopf war das im Westen mit knapp 1600 Euro fast viermal so viel wie im Osten mit nur 400 Euro. Diese gravierenden Unterschiede findet die Ostbeauftragte problematisch. Daher sei die Diskussion über Veränderungen bei der Erbschaftssteuer nicht verkehrt, meint sie.
20.000 Euro staatliches Grunderbe für alle?
Damit knüpft Kaiser an Vorschläge an, die Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) schon vor einigen Jahren gemacht haben: Der Staat solle allen jungen Erwachsenen ein zweckgebundenes Grunderbe in Höhe von 20.000 Euro zahlen. Damit könnten sie zum Beispiel eine Ausbildung finanzieren, ein Unternehmen gründen oder in eine Immobilie investieren.
Die Stiftung "Ein Erbe für Jeden" hält das für realistisch und finanzierbar: "Es wird aus einem Fonds gezahlt, der aus einer relativ geringen Abgabe auf größere Erbschaften gespeist wird", heißt es auf der Homepage. Ihren Berechnungen zufolge wären fünf Prozent der jährlichen Erbschaften in Deutschland ausreichend, um die Idee umzusetzen.
Die Vermögensunterschiede verfestigen sich
Aber auch der Ostbeauftragten ist klar, dass die Diskussion um eine Reform der Erbschaftssteuer ein heißes Eisen innerhalb der Regierungskoalition ist. In ihrer eigenen Partei, der SPD, gibt es dafür Sympathien - aber in den Unionsparteien CDU/CSU kann sich damit kaum jemand anfreunden. An den großen finanziellen Unterschieden zwischen Ost und West wird sich also auch 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands so schnell nichts ändern.
Entsprechend gemischt fällt Elisabeth Kaisers Gesamtbilanz aus: Ostdeutschland habe sich in vielen Bereichen gut entwickelt, die Wirtschaft sei gewachsen, es gebe eine lebendige Start-up-Szene und man sei Vorreiter beim Ausbau der erneuerbaren Energien.
Doch all das werde auf Dauer nicht reichen, um den Rückstand gegenüber den Westen auszugleichen. Und das dürfte wegen der zunehmenden Überalterung des Ostens und des Wegzugs vieler junger Menschen künftig noch schwieriger werden.
Zwei Millionen Menschen haben den Osten verlassen
Abgesehen von der deutschen Hauptstadt Berlin hat der Osten seit der Wiedervereinigung 1990 zwei Millionen Menschen durch Abwanderung verloren - ein Minus von 16 Prozent.
Aktuell haben die fünf ostdeutschen Flächenbundesländer noch knapp 12,5 Millionen Einwohner. Im selben Zeitraum wuchs die Bevölkerung in Westdeutschland um zehn Prozent auf fast 68 Millionen.