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50 Jahre deutsch-brasilianisches Atomabkommen - ein Relikt?

27. Juni 2025

Am 27. Juni 1975 unterzeichneten die Bundesrepublik und Brasilien einen Vertrag zur Kooperation bei der Kernenergie. Trotz des deutschen Atomausstieg gilt er noch heute.

Weiße Kuppel eines Atomkraftwerks
Produkt der deutsch-brasilianischen Kooperation: das Atomkraftwerk Angra 2 in BrasilienBild: Leo Correa/AP Photo/picture alliance

Das Abkommen, das in Deutschland fast niemand kennt, wird Ende Juni ein halbes Jahrhundert alt. Es hat der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung mit dem Logo der lachenden roten Sonne getrotzt, die Nuklearkatastrophen von Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 überlebt und selbst den deutschen Atomausstieg 2023 mit der Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke überstanden.

Sein offizieller Name: "Abkommen zwischen der Föderativen Republik Brasilien und der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie." Das Ziel der Kooperation, damals, vor 50 Jahren: der Bau von acht Atomkraftwerken, einer Urananreicherungsanlage und einer nuklearen Wiederaufbereitungsanlage in Brasilien durch Siemens, inklusive Fortbildungen für Wissenschaftler.

Die Unterzeichner: die deutsche Regierung aus Sozialdemokraten (SPD) und liberaler FDP unter Bundeskanzler Helmut Schmidt auf der einen, die brasilianische Militärdiktatur mit Präsident Ernesto Geisel auf der anderen Seite.

"Es wurde 1975 als das größte Technologieabkommen des Jahrhunderts gefeiert, die Begeisterung war auf beiden Seiten riesig", erinnert sich der 73-jährige deutsch-brasilianische Soziologe Luiz Ramalho im DW-Interview. Ramalho ist Vorsitzender des Lateinamerika Forums in Berlin und Kritiker der ersten Stunde.

Er hat sich die Kündigung des Vertrags, die nur alle fünf Jahre möglich ist, zur Lebensaufgabe gemacht. Ende 2024 wähnte er sich endlich fast am Ziel, mit der sogenannten "Fortschrittskoalition" aus SPD, Grünen und FDP.

Luiz Ramalho: "Ein Anlass alle fünf Jahre, um uns an die Technologiegläubigkeit von damals zu erinnern" Bild: privat

"Ich habe geglaubt, jetzt gelingt es, mit einer grünen Außenministerin Annalena Baerbock, einer grünen Umweltministerin und Ministerin für nukleare Sicherheit, Steffi Lemke, und einem grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck." Es habe damals Gespräche in den Ministerien gegeben. Die Kündigung wurde geprüft, vor allem mit Blick auf die Kündigungsfrist am 18. November. "Und dann brach in Deutschland Anfang November die Ampel zusammen. Ich dachte nur, das kann nicht sein, wieder fünf Jahre warten."

Mehrere Anläufe der Grünen gegen das Atomabkommen

Es war nicht der erste Versuch der Grünen, das für sie so ungeliebte deutsch-brasilianische Atomabkommen zu beenden. Schließlich sind die Grünen die Partei, für welche die Anti-Atomkraft-Proteste zum Gründungsmythos und zur DNA gehören.

2004 probierte der damalige grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin erfolglos, das Nuklear-Abkommen in eines für Erneuerbare Energien umzuwandeln. Zehn Jahre später scheiterte der Eilantrag der Grünen in der Opposition, die nuklearen Verträge mit Brasilien und Indien zu kündigen am Widerstand der Großen Koalition - aus konservativer Union (CDU und CSU) und der SPD - unter CDU-Kanzlerin Angela Merkel.

Für Harald Ebner, Bundestagsabgeordneter der Grünen, ist die Bilanz der Kooperation ernüchternd. Er schreibt der DW: "Noch am Reißbrett scheiterten sechs der im Abkommen festgehaltenen acht Atomkraftwerke. Aber auch die beiden anderen sind alles andere als ein Erfolg: Angra-3 wurde zu einer 40-jährigen unvollendeten Baustelle und ein einziger Block, Angra-2, konnte im Jahr 2000 schließlich nach 24 Jahren Bauzeit als das damals teuerste AKW der Welt ans Netz gehen."

Harald Ebner: "Atomkraft ist unwirtschaftlich und gefährlich, überall auf der Welt"Bild: Laurence Chaperon

Angra-2 sei allerdings anfällig für Erdbeben, Bodenrutsche und Überschwemmungen, während sich auf dem Gelände immer mehr hochgefährlicher Atommüll sammle, für den es keine Lösung gebe, so Ebner. Heißt: Ein Endlager für den Atommüll gibt es nicht. Sein Fazit: "Mit dem in weiten Teilen gescheiterten Abkommen waren Brasilien und Deutschland gemeinsam auf dem Holzweg."

Atomenergie weltweit wieder auf dem Vormarsch?

Für Ebner ist Atomkraft eine Energieform der Vergangenheit, doch dies sehen längst nicht alle so. Im Gegenteil: Weltweit erfährt sie eine Renaissance, einer Studie der Internationalen Energieagentur IEA zufolge streben mehr als 40 Länder nach einem Ausbau der Kernkraft, um den steigenden Bedarf an Elektrizität zu decken.

Die Internationale Energieagentur wurde Mitte der 1970er-Jahre von 16 Industrienationen gegründet - als Reaktion auf die damalige Ölkrise. Die IEA gilt traditionell als eher atomfreundlich.

In Brasilien beträgt der Anteil der Atomkraft an der Stromerzeugung gerade einmal drei Prozent. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der früher der Kernenergie eher kritisch gegenüberstand, äußerte jedoch vor einigen Wochen bei einem Treffen in Moskau mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin großes Interesse an den Erfahrungen Russlands mit kleinen Kernkraftwerken.

Partner im Bereich Energie: Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem brasilianischen Amtskollegen LulaBild: Sergey Bobylev/Anadolu/picture alliance

Keine Absage der Union an die Atomkraft 

Und selbst in Deutschland hat die vermeintlich totgesagte Debatte um die Nutzung von Kernenergie wieder Fahrt aufgenommen. Die frühere Kanzlerin Angela Merkel hatte zwar den deutschen Atomausstieg 2011 kurz nach dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima durchgesetzt, aber im vergangenen Bundestagswahlkampf forderte unter anderem der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder die Reaktivierung von drei stillgelegten Atomkraftwerken.

War der deutsche Atomausstieg ein Fehler?

07:04

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Auch die neue Wirtschaftsministerin Katharina Reiche von der CDU scheint der Nutzung von Atomkraft offen gegenüberzustehen. Neulich traf sie Kollegen der sogenannten europäischen Nuklear-Allianz - ein Zusammenschluss von Ländern wie Frankreich, Schweden oder Polen, die sich für eine stärkere Nutzung der Kernenergie einsetzen.

Was bedeutet das für das deutsch-brasilianische Atomabkommen? Thomas Silberhorn, CDU-Bundestagsabgeordneter und lange Mitglied der deutsch-brasilianischen Parlamentariergruppe, schreibt der DW:

"Das Abkommen ist ein frühes Beispiel von Technologiepartnerschaft und damit ein Meilenstein in unseren bilateralen Beziehungen. Heute liegen die Schwerpunkte der Zusammenarbeit bei Wasserstoff und erneuerbaren Energien. Aber Technologieoffenheit und energiepolitische Unabhängigkeit bleiben für Brasilien relevant und haben auch in Deutschland und ganz Europa wieder an Bedeutung gewonnen."

Thomas Silberhorn von der CDU zieht ein positives Fazit des AtomabkommensBild: Ralf Rödel

Atomabkommen: Was macht die SPD?

So könnte es auf die mitregierenden Sozialdemokraten ankommen, welche Zukunft das ein halbes Jahrhundert alte Atomabkommen hat. Lange Zeit mieden die SPD und die deutschen Regierungen das Thema, weil man Brasilien als wichtigen strategischen Partner im Globalen Süden nicht verprellen wollte, eine Kündigung womöglich als unfreundlicher Akt interpretiert werden könnte. Nina Scheer, energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, schreibt jetzt jedoch der DW:

"Mit dem Koalitionsvertrag ist eine Intensivierung der strategischen Partnerschaft mit Brasilien vorgesehen. Aufgrund der Bedeutung der Energiewende für die strategischen und nachhaltigen Entwicklungspotenziale geht es hiermit auch um eine Ablösung des deutsch-brasilianischen Atomabkommens durch Partnerschaften beim Umstieg auf Erneuerbare Energien. Dies schließt eine Beendigung des Atomabkommens ein."

Nina Scheer spricht sich für eine Kündigung des Atomabkommens ausBild: Felix Müschen/dpa/picture alliance

Uran-Geschäfte mit Russland 

Das ist Klartext, den Miriam Tornieporth sicher gerne hören wird. Sie arbeitet für die 2008 gegründete deutsche Anti-Atom-Organisation "ausgestrahlt e.V.", die sich schon seit Jahren für eine Kündigung des deutsch-brasilianischen Atomabkommens einsetzt. Tornieporth sagt der DW: "Diese Kooperation ist einfach total aus der Zeit gefallen und beinhaltet beispielsweise auch keine Sicherheitsaspekte, die man unter heutigen Gesichtspunkten drin haben müsste."

Aus bleibt aus - Proteste der Anti-Atomkraft-Organisation ".ausgestrahlt e.V." vor dem Kernkraftwerk in BrokdorfBild: .ausgestrahlt

Besondere Brisanz erfährt das umstrittene Abkommen durch die neueste geopolitische Entwicklung, genauer: den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Denn der französische Atomkonzern Frematome stellt im niedersächsischen Lingen Brennstäbe für Atomkraftwerke her - in Kooperation mit Rosatom. Das staatseigene russische Atomindustrie-Unternehmen hat wiederum mit Brasilien 2022 ein Abkommen über Uranlieferungen abgeschlossen.

"Wir gehen davon aus, dass sowohl in der Urananreicherungsanlage Gronau in Nordrhein-Westfalen als auch in Lingen russisches Material verarbeitet und von dort nach Brasilien geschickt wird. Im Gegensatz zu anderen Energieformen ist die russische Atomindustrie auch von Sanktionen ausgenommen", sagt Miriam Tornieporth.

"Da Deutschland seine Atomkraftwerke abgeschaltet hat, wäre es konsequent, auch die Anlagen in Gronau und Lingen abzuschalten, um den Atomausstieg vollständig abzuschließen."