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Das "Wundermittel": 60 Jahre Antibabypille

18. August 2020

Sie wurde bejubelt; sie wurde verdammt: Die Pille befreite die Sexualität, gab den Frauen mehr Selbstbestimmung - und spaltete bei ihrer Einführung die Gesellschaft. Jetzt geht ihre Bedeutung zurück.

Antibabypille
Bild: picture-alliance/BSIP

So winzig die Pille ist, so gigantisch war ihre Wirkung - in jeder Hinsicht. Als die erste Antibabypille am 18. August 1960 in den USA auf den Markt kam, war das eine Sensation - die erste Form der hormonellen Empfängnisverhütung. Ein Jahr später war "die Pille" in West-Deutschland erhältlich, weitere vier Jahre danach in der früheren DDR. Die Pharma-Industrie vermarktete sie Anfangs als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden. Verschrieben wurde sie nur verheirateten Frauen. Erst am Ende der Packungsbeilage fand sich der Verweis auf ihre wichtigste Eigenschaft. Kleingedruckt und fast versteckt stand da: Sie schützt auch vor der Empfängnis.

Anovlar: Die erste Antibabypille in Deutschland kam am 1. Juni 1961 auf den MarktBild: AP

Eine weitere "Nebenwirkung" der Pille ging über medizinische Effekte weit hinaus: Ihre gesellschaftliche Sprengkraft. Die neue Verhütungsmethode entkoppelte erstmals den Geschlechtsverkehr langfristig von der Fortpflanzung. Sex aus Spaß statt Beischlaf für Babys - die Pille machte es möglich, leichter und zuverlässiger als alle bis dahin bekannten Hilfsmittel. Sie gab den Frauen eine neue Entscheidungsfähigkeit über ihren Körper, ließ sie ihre Sexualität selbstbestimmter ausleben und revolutionierte ihr Leben.

Damals habe die Sorge vor einer ungewollten Schwangerschaft die ganze Sexualität beherrscht, erinnert sich die Publizistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer in einem Interview mit dem Zweiten Deutschen Fernsehen. Für eine verantwortungsvolle Frau habe sich alles danach gerichtet. "Man wusste ja auch, Abtreiben kann man eigentlich nicht. Da hörte man was munkeln von Küchentischen und verbluteten Frauen." Auch jenseits moralischer Bedenken habe man schon aus Angst nicht abgetrieben. "Und als dann die Pille kam in der ersten Hälfte der Sechziger - da war ich eine junge Frau, die im wilden Alter war - da war das einfach uneingeschränkt eine Befreiung. Das war eine fantastische Sache. Wir alle, glaube ich, haben mit Freude danach gegriffen. Ein Wundermittel."

Alice Schwarzer: "Wundermittel" und "uneingeschränkte Befreiung"Bild: DW/M. Dronne

Ärzte warnen, Papst verbietet

Bis dahin bestimmten die sogenannten "drei K" die soziale Rolle von Frauen: Kinder, Küche, Kirche. Selbstbestimmtes weibliches Leben war in der konservativen deutschen Nachkriegsgesellschaft nicht vorgesehen. Es formierte sich erheblicher Widerstand. Sogar Ärzte liefen Sturm. Der Medizinhistoriker Robert Jütte erinnert im DW-Gespräch an die "Ulmer-Erklärung" von 1964: Darin warnten rund 200 Ärzte, "dass es verheerende Folgen haben würde, wenn die Liebe folgenlos bleiben würde." Der frühere Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung betont: "Es gab einen breiten gesellschaftlich, autoritäreren Konsens, die Empfängnisverhütung in Grenzen zu halten."

Papst Paul VI.stemmte sich gegen jede Form künstlicher EmpfängnisverhütungBild: picture-alliance/dpa

Erbitterter Widerstand gegen die Pille kam von der Kirche. Am 25. Juli 1968 verurteilte der damalige Papst Paul VI. in der Enzyklika Humanae Vitae die Geburtenkontrolle durch künstliche Verhütungsmittel. Diese würden den außerehelichen Geschlechtsverkehr befördern und zur "allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht" beitragen. Für gläubige Katholiken praktisch ein Verbot.

"Make love not war"

Aber der Zeitgeist war ein anderer. Die alte Gesellschaftsordnung bröckelte bereits. Steigender Wohlstand beförderte den Wunsch nach Selbstverwirklichung und individueller Freiheit. Die sexuelle Revolution räumte erstarrte Konventionen ab. Das Hippie-Motto der freien Liebe "make love not war" war mitbestimmend für den westlichen 68er-Aufbruch von Studenten und Jugendlichen. Partner wechselten so offen und häufig wie nie zuvor. Berühmt wurde der provokativ-programmatische Spruch der Studentenrevolte: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Medizinhistoriker Jütte will die Rolle der Pille allerdings nicht überbewerten: Sie sei nicht Ursache dieser Entwicklung gewesen, "sondern eher Katalysator".

Die sexuelle Befreiung schuf aber auch neue Zwänge. "Vorher sollten die jungen Mädchen und Frauen in die Ehe gehen. Und nun? Mit der Pille drehte sich das Blatt, und Frauen hatten zur Verfügung zu stehen", erinnert sich die Feministin Alice Schwarzer. Wenn ein Mädchen nicht die Pille geschluckt habe, sei gesagt worden, "die sei zu blöd, und mit der hat man noch nicht mal mehr getanzt. Nun wurde permanente sexuelle Verfügbarkeit erwartet, und Konsequenzen waren von den Männern nicht mitzutragen."

Wunsch nach hormonfreier Verhütung

In Deutschland ist die Pille seit langem die meist genutzte und sicherste Verhütungsmethode. Obwohl sie erst vom Arzt verschrieben werden muss. Dafür aber übernehmen die Krankenkassen die Kosten - für junge Frauen und Mädchen unter 22. Am Geld muss Verhütung aber auch für ältere Frauen nicht scheitern: Sie müssen für eine Sechsmonatspackung noch nicht mal 30 Euro auf den Apothekentisch legen.

Mittlerweile hat sich dennoch eine gewisse Pillenmüdigkeit eingestellt. Immer mehr junge Frauen wollen nicht mehr in ihre natürlichen hormonellen Abläufe eingreifen. Seit fünf, sechs Jahren beobachte sie "einen zunehmenden Wunsch danach, hormonfrei zu verhüten, sich von der Pille zu lösen", bestätigt die Gynäkologin Gabrielle Stöcker gegenüber der DW. Sie arbeitet für pro familia, den führenden Verband zu Sexualität und Partnerschaft in Deutschland. Die Pille sei zwar ein sehr gutes Verhütungsmittel, aber eben auch ein Medikament mit Nebenwirkungen.

Carl Djerassi hatte die Pille mit zwei Kollegen entwickelt. Er nannte sich selbstironisch "Mutter der Pille"Bild: picture-alliance/dpa/B. Rössler

Stöcker sieht deshalb Pharmafirmen kritisch, die ihre Präparate als Lifestyle- und Beauty-Produkte vermarkten. Die Pille macht schlank, wird da manchmal versprochen, oder sie verschönere die Haut. Gefahren wie Thrombose würden oftmals ausgeblendet. Wenn man sich die Werbung anschaue, könne man fast den Eindruck bekommen, "die Pille sei ein Schönheitsprodukt und ohne Risiken", bemängelt die pro familia-Fachfrau. "Es ist klar, dass sich Frauen, die unter Nebenwirkungen oder Komplikationen leiden, nicht mehr ernst genommen fühlen."

Weltweit auf Platz 4

Stöckers Beobachtung wird untermauert von einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Verhütungsverhalten Erwachsener von 2018: Pille und Kondom sind demnach mit 47 und 46 Prozent nach wie vor die wichtigsten Verhütungsmittel. Im Vergleich zur vorhergehenden Studie aus dem Jahr 2011 sank die Beliebtheit der Pille aber um 6 Prozentpunkte. Mit 9 Prozentpunkten gab es einen deutlichen Anstieg bei der Nutzung von Kondomen. Da spielt sicher auch der Schutz vor HIV und anderen Geschlechtskrankheiten eine Rolle. 

Indische Frauen warten auf eine SterilisationBild: Reuters/M. Mukherjee

Ähnlich beliebt wie in Deutschland ist die Pille sonst vor allem in den anderen Ländern Europas. Im Weltmaßstab aber ist die am häufigsten verwendete Verhütungsmethode nach der aktuellen Verhütungsstatistik der Vereinten Nationen die Sterilisation der Frau - obwohl dieser Eingriff beim Mann medizinisch sehr viel einfacher ist. Im vergangenen Jahr waren 23,7 Prozent (219 Millionen) aller verhütenden Frauen sterilisiert. Auf Platz Zwei liegt das Kondom für Männer (189 Millionen) vor der Spirale (159 Millionen). Die Pille folgt erst auf Platz 4 (151 Millionen).

Ärmere Länder setzen auf Sterilisation

In den Schwellen- und Entwicklungsländern des globalen Südens ist oft schon die Versorgung mit Antibiotika aufgrund infrastruktureller oder finanzieller Probleme schwierig. Dass die täglich einzunehmende Anti-Baby-Pille da keine Erfolgsgeschichte schreiben konnte, überrascht schon deshalb kaum. Medizinhistoriker Jütte erklärt die mangelnde Verbreitung der Pille auch mit der dort oft untergeordneten gesellschaftlichen Position der Frau. "Man darf auch staatliche Repressionen in islamischen Staaten nicht vergessen, die grundsätzlich gegen Empfängnisverhütung sind. Es ist eine Kombination von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren."

Jütte verweist darauf, dass selbst in den Ländern mit dem weltweit niedrigsten Bruttosozialprodukt "immerhin 28 Prozent der Frauen überhaupt empfängnisverhütende Mittel nehmen." In diesen Ländern spielten auch aufgrund der medizinischen Versorgung "langfristige Verhütungsmethoden wie die Sterilisation der Frau oder die Spirale, eine größere Rolle als die Pille."

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