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Film

70. Berlinale: Bilder einer Großstadt

Jochen Kürten
27. Februar 2020

Schauplatz deutsche Hauptstadt: Berlin spielt in vielen Filmen der Berlinale eine Haupt- , manchmal eine Nebenrolle. Am auffälligsten in der Neuverfilmung eines Literatur-Klassikers: "Berlin Alexanderplatz".

Berlinale 2020 Filmstill | Berlin Alexanderplatz
Bild: Wolfgang Ennenbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Schon vor der 70. Berlinale hatte der neue Festivalchef Carlo Chatrian angekündigt, Berlin werde zum Thema bei seiner Einstands-Berlinale. Wie ein roter Faden zöge sich die Stadt durchs Programm, so Chatrian in einem Interview. Schauplatz Berlin also - und das nicht nur im Wettbewerb, dort aber besonders auffällig. Zuallererst ist da natürlich "Berlin Alexanderplatz" zu nennen, die Neuverfilmung und -Interpretation eines weltberühmten literarischen Stoffes (unser Foto oben) durch Regisseur Burhan Qurbani. Dazu gleich mehr.

Berliner Stadtmodelle in "Undine"

Doch auch Christian Petzolds Film "Undine", der im Rennen um den Goldenen Bären mitmischt, spielt in Berlin. Vor allem ein Museum wird dort zu einem wichtigen Schauplatz. Die Hauptprotagonistin Undine, gespielt von Paula Beer, führt interessierte Touristen aus dem Ausland vor großen Stadtmodellen die Historie Berlins vor Augen. Deutlicher kann man Stadtgeschichte in einem Spielfilm eigentlich nicht zeigen.
Auch "Schwesterlein", eine Schweizer Produktion mit den deutschen Stars Nina Hoss und Lars Eidinger, spielt teilweise in Berlin, wiewohl die Regisseurinnen auf klassische Berlin-Szenen verzichtet haben. Doch wird immerhin ein legendärer Kulturschauplatz der deutschen Hauptstadt ins Zentrum des Geschehens gerückt: das berühmte Theater "Schaubühne am Lehniner Platz" wird zum zentralen Handlungsort.

Paula Beer in "Undine" vor Berliner StadtmodellBild: Marco Krüger/Schramm Film

Berlin-Kreuzberg im Fokus: "Kokon"

Auf Berlin als Schauplatz trifft man auch im Film "Kokon" in der Reihe "Generation", die sich an ein jüngeres Publikum wendet. Hier sind es junge Mädchen, die durch den Stadtteil Kreuzberg ziehen und ganz tief in die alternative Stadtszene eindringen. Berlin, das ist in "Kokon" nicht Brandenburger Tor und Potsdamer Platz, das sind hier auch die hässlichen, kalten Seiten der Stadt. Aber es sind eben die so typischen und dann auch wieder liebenswerten Facetten einer Großstadt, die nur so vor Historie und Geschichten strotzt. 
Nicht zu vergessen bei dieser 70. Berlinale ist da noch die erstaunliche Dokumentation "The American Sector", die auf eine ganz andere, originelle Seite der Stadthistorie hinweist. Teile der Berliner Mauer, die in Zeiten des Kalten Krieges die Stadt in Ost und West zerschnitt, wurden nach 1989 auch an viele Orte in den USA transportiert.

Blick auf Berlin-Kreuzberg in "Kokon"Bild: Martin Neumeyer/JOST HERING FILME

Berliner Mauer - Mahnmal in aller Welt

Dort stehen sie als Denkmal, als Erinnerung, als Zeichen eines politischen Zeitenwandels: "The American Sector" fragt nach dem Sinn solcher Symbolik, stellt die Frage, was von der Mauer übrig blieb, auch in den Köpfen der Menschen.

Berliner Mauerstücke in "The American Sector"Bild: Courtney Stephens/Pacho Velez

Doch vor allem richteten sich alle Augen in diesen Tagen auf den Film "Berlin Alexanderplatz" im Wettbewerb, schon allein deshalb, weil er das Thema im Titel trägt. Aber auch darüberhinaus: "Berlin Alexanderplatz" ist einer der wichtigsten deutschen Romane der Literaturgeschichte, sein Autor Alfred Döblin schrieb ihn Ende des 1920er Jahre. Er gilt als erster deutscher Großstadtroman moderner Prägung, ästhetisch kühn in seiner Anlage, aber auch sozialkritisch, mit einem breiten Panoramablick auf die deutsche Hauptstadt.

Franz Biberkopf (Günter Lamprecht, l.) in Fassbinders "Berlin Alexanderplatz" Bild: picture-alliance/KPA

Phil Jutzi und Fassbinder verfilmten den Stoff

Zur Bedeutung des Buches gehört auch die Tatsache, dass er bereits zweimal verfilmt worden ist und beide Übertragungen ins andere Medium gelten als legendär. Phil Jutzi griff schon kurz nach Veröffentlichung des Textes 1929 zur Kamera und legte seinen Fokus auf die Liebesgeschichte und melodramatische Aspekte, was ihm auch Kritik einbrachte. Doch auch ohne den Blick auf die sozialen Verwerfungen der späten Weimarer Republik wurde der Film zum Klassiker. 

Legendärer Großstadtroman "Berlin Alexanderplatz"

Rainer Werner Fassbinder verfilmte das ein paar Hundert Seiten dicke Buch dann als Serie, als noch keiner ahnte, dass sich gerade dieses Format für die Verfilmung ausufernder Geschichten gut eignen sollte: Fassbinder schuf 1979/80 ein großes Stadt- und Gesellschaftspanorama, dessen künstlerische Qualitäten erst später deutlich wurden - bei der Berlinale feierte die Serie 2007 eine triumphale späte Kinoauswertung.  

Qurbani ist einer der talentiertesten Regisseure Deutschlands

Nun also "Berlin Alexanderplatz" zum dritten: Der in einer westdeutschen Kleinstadt als Kind afghanischer Eltern geborene Burhan Qurbani hat diesmal auf dem Regiestuhl gesessen und dem Stoff noch einmal neues, und man muss sagen: ganz modernes Leben eingehaucht. Qurbani hat bisher zwei bemerkenswerte Filme vorgelegt: Vor genau zehn Jahren überraschte er die Filmwelt auf der Berlinale mit der berührenden Jugendstudie "Shahada", die das Thema Islam in Deutschland in den Fokus nahm, als hier noch kaum jemand draufschaute. 2015 drehte Qurbani den in gerade diesen Tagen wieder hochexplosiven Film "Wir sind jung. Wir sind stark." über rechtsextreme Jugendliche. 

Mieze (Jella Haase) und Francis (Welket Bungué) in Burhan Qurbanis "Berlin Alexanderplatz"Bild: Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Atmosphäre der 1920er Jahre aufgegriffen

Nun also das bisher aufwendigste Projekt dieses vielversprechenden Regisseurs. "Das Buch interessiert sich für den Menschen und wie er sich in diesem Moloch Großstadt bewegt. Und das bleibt immer aktuell", so der Regisseur in einem dpa-Interview. "Ich finde, Berlin hat nichts von der Qualität, die es in den 1920er oder 1930er Jahren hatte, verloren. Das haben wir versucht, so stark wie möglich in unseren Film zu übersetzen."

Der Kriminelle Reinhold (Albrecht Schuch) hat Francis meist im Griff: "Berlin Alexanderplatz"Bild: Frédéric Batier/2019 Sommerhaus/eOne Germany

Die Erzählstimme Döblins wurde übernommen

Ist ihm das gelungen? "Berlin Alexanderplatz" in der Version von Qurbani ist eine Literaturverfilmung nach einem jahrzehntealten Roman, die, obwohl sie im Hier und Jetzt spielt, stark an Döblin und seine Zeit erinnert. Das ist eine Überraschung und liegt vor allem an der Erzählstimme, die übernommen wurde. Aus Döblins Franz Biberkopf, der aus dem Gefängnis kommt und in Berlin wieder Fuß zu fassen versucht, ist bei Qurbani ein Flüchtling aus Guinea-Bissau geworden, der in der deutschen Hauptstadt strandet - und sich ebenfalls bemüht, ein anständiger Mensch zu werden.

Qurbani legt Schwerpunkt auf Beziehungsthematik

Francis, wie er nun heißt, gerät - wie bei Döblin - in die Fänge des Kriminellen Reinhold, macht Bekanntschaft mit der Prostituierten Mieze. Die Drei verstricken sich auf eine Art und Weise, die auf eine Katastrophe hinauslaufen muss. "Berlin Alexanderplatz" spielt im Berlin der Kleinkriminellen und Drogendealer, in Flüchtlingsunterkünften und Nachtclubs, auf den Straßen Berlins und vor Graffiti-Beton - und doch: Qurbani setzt mehr auf die geduldige Ausleuchtung der Charaktere, auf Beziehungsthematik und Psychologie denn auf Gesellschaftskritik und Flüchtlingsdramatik.

Kurz vor der Welturaufführung bei der Berlinale: Qurbani (l) und seine Darsteller aus "Berlin Alexanderplatz"Bild: picture-alliance/dpa/G. Fischer

Qurbani stellt grundlegende Fragen

"Berlin Alexanderplatz" ist großartig gespielt und auch drei Stunden Spieldauer werden vom Regisseur gemeistert. Was am Ende aber doch ein wenig irritiert ist, dass Qurbani so stark auf die literarischen Akzente setzt. Der Film schneidet die großen Themen Döblins an: Was macht den Menschen aus? Was ist Liebe? Wofür lohnt es sich zu leben? Und, ja: Was ist Gut? Was ist Böse?

Doch die Flüchtlingsgeschichte und all das, was damit im Jahr 2020 zusammenhängt, gerät etwas in den Hintergrund. Das nimmt diesem Berlin-Film ein wenig Zündstoff. Einer der Favoriten auf einen Bären ist er dennoch zu Recht.

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