1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

70 - eine besondere Zahl

18. April 2018

Der Jahrestag der Staatsgründung wird in Israel jedes Jahr gefeiert, "runde" Jubiläen auch richtig kräftig. Die Feiern zum 70. Jahrestag werden 70 Stunden dauern. Denn diese Zahl hat im Judentum eine besondere Bedeutung.

Yehuda Teichtal orthodoxer Rabbiner
Rabbiner Teichtal: "Runde Zahlen sind ein ganz starkes Zeichen"Bild: DW/C. Strack

70 Stunden "voller Energie, Positivität und Freude, die uns alle verbinden", hat Israels Kulturministerin Miri Regev angekündigt. Die Feiern beginnen diese Woche Mittwoch und dauern bis in den Shabat. Unter anderem gibt es eine "70-Kilometer-Party", die sich während von Tiberias am Ufer des Sees Genezareth im Norden allmählich nach Eilat am Roten Meer im Süden bewegen soll. Israel ist eben auch ein Party-Land.

Aber warum diese Betonung der Zahl 70? Zum Verständnis hilft ein Blick in jüdische Schriften - oder ein Gespräch mit einem Rabbiner. "Die Zahl 70 im Judentum hat eine ganz besondere, wichtige Bedeutung", sagt der orthodoxe Rabbiner Yehuda Teichtal der Deutschen Welle. Die Zahl stehe für Vollkommenheit. So gebe es nach rabbinischer Lehre im Menschen sieben verschiedene Eigenschaften, von Wohltätigkeit bis Stärke, "und jede dieser sieben Eigenschaften setzt sich aus zehn einzelnen Aspekten zusammen". Sieben mal zehn macht - 70.

Kulturministerin Regev: ein 70-stündiges Fest "voller Energie, Positivität und Freude"Bild: picture-alliance/AP Photo/G. Tibbon

Koscheres Essen zum Jubiläum

Teichtal, 1972 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren, kam 1996 mit seiner Familie nach Berlin. Als er von der damaligen Entscheidung erzählt, ihn ins Land der Shoa zu schicken, spürt man rasch, was das für ihn bedeutete. "Mein Urgroßvater wurde in Auschwitz ermordet, insgesamt starben 63 Mitglieder der Teichtal-Familie. Aber mein Opa hat überlebt. Als es dann darum ging, dass ich nach Deutschland gehen sollte, sagte der: Das ist der richtige Ansatz. Gerade dort, wo es dunkel war, sollten wir positiv aufbauen." Heute leitet Teichtal im Bezirk Wilmersdorf das Bildungszentrum der chassidischen Lubawitscher. Im Juni steht die Grundsteinlegung eines lange geplanten "Jüdischen Campus" an.

Auch Teichtal selbst hat mit dem 70. Jubiläum zu tun. Während unseres Gesprächs läutet sein Mobiltelefon: Es geht um den festlichen Empfang in Berlin am Donnerstag. Einer seiner Rabbiner-Kollegen steht in der Küche des Berliner Großhotels, in dem die Feier geplant ist. Teichtal soll mit dafür sorgen, dass alle Speisen dort koscher - also nach jüdischen Speisegesetzen zubereitet - sind. Das ist knifflig.

Vom Auszug nach Ägypten

Dann kommt er wieder auf die Zahl 70 zurück: "Zahlen haben besondere Bedeutung", sagt der Rabbiner. "Runde Zahlen sind ein ganz starkes Zeichen. Sie weisen auf eine besondere Erinnerungskultur hin."

Immer wieder taucht die Zahl auch in Texten der Tora oder des Talmud auf. Zu den bekannteren Schriftstellen gehört im 1. Buch Mose der Tora (dem entspricht das Buch "Genesis" der christlichen Bibel) der Bericht vom Auszug nach Ägypten. "Als die Juden nach Ägypten zogen, waren sie 70. Und als Moses später aus dem Volk Repräsentanten wählen sollte, die das Volk repräsentieren sollten, waren es auch 70 Personen", erzählt Teichtal. "Gott hat später zu Moses gesagt: Wähle 70 Menschen, das Volk zu repräsentieren. Da stellt sich die Frage: Warum 70 - warum nicht 60 oder 80? Wegen der Vollkommenheit."

"Das reife Alter" - die Zahl 70 wird in jüdischen Texten und Schriften immer wieder genanntBild: DW/C. Strack

Zur Zahl 70 gibt es in der rabbinischen und talmudischen Literatur zahlreiche Deutungen und Ausdeutungen. So gibt es 70 Namen Gottes oder 70 Namen der Stadt Jerusalem. Im zwölften Jahrhundert formulierte der Gelehrte Ibn Esra, dass die Tora "70 Gesichter" habe. Anne Birkenhauer, angesehene Übersetzerin hebräischer Literatur ins Deutsche, schrieb dazu in der "Jüdischen Allgemeinen": "Der rabbinische Grundsatz 'Die Tora hat 70 Gesichter' betont die Möglichkeit ganz unterschiedlicher Deutungen ein und derselben Textstelle. Die Gelehrten haben diese Kommentare durch die Jahrhunderte gesammelt, diskutiert und für ihre jeweilige Generation bindend ausgelegt. Ihre Kommentare ranken sich wie Baumringe um die jeweiligen Textstellen."

"Ein vollkommenes Leben"

Teichtal erinnert daran, dass 70 Lebensjahre in den Psalmen als reifes Lebensalter genannt werden. "Das ist ein gutes Alter. Wenn einer 70 Jahre erreicht hat, hat er ein vollkommenes Leben erreicht. Natürlich wünschen wir immer, dass er 120 wird. Aber 70 ist schon vollkommen. Deswegen ist 70 eine besonders fröhliche, glückliche, positive, schöne Zahl." Und ein solcher Jahrestag sei "eine wichtige Zahl, ein Sprungbrett, eine Überzeugung von einem Beginn für etwas Neues, für etwas Besonderes. Und deswegen ist es Grund, einfach dankbar zu sein in Gott." 

Einige Synagogen, sagt der Rabbiner, änderten eigens zum runden Jahrestag der Staatsgründung in ihren Gebeten bestimmte Passagen. Die Gemeinschaft der Lubawitscher, zu denen Teichtal zählt, mache das bewusst nicht, weil die Gebetstexte selbst doch über 2000 Jahre alt seien.

In den USA geboren, in Deutschland ansässig, und immer mal wieder in Jerusalem, in Israel. Wenn Teichtal von dem Land spricht, wird er ernst und grundsätzlich. "Israel wird leider von vielen Nachbarn bis heute, 70 Jahre später, nicht akzeptiert und respektiert. Viele Völker wollen Israel von der Landkarte zu löschen, die einzige Demokratie im Nahen Osten." Dabei sei Israel "ein Leuchtturm für Respekt vor allen Menschen". Er wolle jeden ermutigen, das Land zu besuchen.