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PolitikEuropa

Genfer Konventionen werden 75

Helen Whittle
12. August 2024

Kann Krieg nach Regeln ablaufen? Und wie behandelt man Schiffbrüchige? All das klären die Genfer Konventionen, die jetzt 75 Jahre alt werden.

Person hält Mobiltelefon mit dem Logo des Internationalen Roten Kreuzes vor einen Monitor, auf dem ein Artikel über die Genfer Konventionen geöffnet ist
Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs 1949 entstanden: Die Genfer KonventionenBild: Timon Schneider/Zoonar/IMAGO

"Eine der wichtigsten Errungenschaften der Menschheit im letzten Jahrhundert" -  als nichts Weniger bezeichnet das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) die "Genfer Konventionen". Und dazu hat die medizinische Hilfsorganisation wohl allen Grund. Denn die Konventionen setzen sozusagen das Regelwerk für die Kriegsführung. Das Ziel: Zivilisten schützen, Sanitäter und Helfer im Krieg unterstützen und den Umgang mit Verwundeten, Kranken, Schiffbrüchigen und Kriegsgefangenen regeln.

Und trotzdem haben die Vereinten Nationen im Jahr 2023 mehr als 33.443 zivile Todesopfer in bewaffneten Konflikten registriert, 72 Prozent mehr als 2022. Die Zahl der Konflikte ist weltweit groß: der Angriff der Terrororganisation Hamas und anderer bewaffneter Gruppen auf Israel am 7. Oktober und die militärische Reaktion Israels im Gazastreifen. Aber auch der Krieg im Sudan und natürlich noch immer der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. UN-Generalsekretär António Guterres warnt, dass "die Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte oft nicht gewährleistet ist" und bezeichnete den Zustand des Schutzes der Zivilbevölkerung als "durchschlagend düster".

Konventionen stehen heute am Scheideweg

"Wir haben beispiellose Angriffe auf medizinisches Personal, auf Krankenhäuser und auf Zivilisten erlebt. Alles das hat gegen die Genfer Konventionen verstoßen", sagt Andrew Clapham, Professor für internationales Recht am Geneva Graduate Institute und ehemaliges Mitglied der UN-Menschenrechtskommission im Südsudan. Für Clapham ist der 75. Jahrestag der Genfer Konventionen ein "entscheidender Moment" für das humanitäre Völkerrecht. Denn die Staaten der Welt müssten jetzt endlich entscheiden, ob sie diejenigen, die ständig gegen die Konventionen verstoßen, für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen wollen oder nicht.

Verstöße können vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) geahndet werden. Der IStGH nahm 2002 seine Arbeit auf. Die Aufgabe: Kriegsverbrecher zur Rechenschaft ziehen. Viele Länder wie die USA, Russland und Israel haben die Zuständigkeit des Gerichtshofs allerdings bis heute nicht anerkannt. "Der IStGH hat Haftbefehle gegen Russen ausgestellt. Es gibt Anträge auf Haftbefehle im Zusammenhang mit dem Konflikt in Gaza. Daran, wie ernst die westlichen Staaten das nehmen, werden wir ablesen können, wie relevant die Genfer Konventionen überhaupt noch sind", so Clapham im Gespräch mit der DW.

Rashmin Sagoo ist Direktorin des Programms für internationales Recht beim britischen Think-Tank Chatham House und war früher Beraterin des Britischen Roten Kreuzes. Sie sieht den 75. Jahrestag der Konventionen sogar als Mahnung: Dass jedes Land erstmal selbst schaut, ob die Konventionen in den eigenen Streitkräften schon umgesetzt werden - und, um die Verbündeten zu ermutigen, das Gleiche zu tun. "Wir dürfen nicht vergessen, dass die Konventionen auf universellen Werten und Prinzipien beruhen. Wenn wir sie im Moment nicht hätten, gäbe es vermutlich Forderungen, sie einzuführen", so Sagoo.

Was sind die Genfer Konventionen? 

Henri Dunant war ein Schweizer Geschäftsmann, Gründer des Internationalen Roten Kreuzes und der Ideengeber für die internationalen Verhandlungen, aus denen 1864 die "Konvention zur Linderung von Kriegsverletzungen" hervorging. Aus ihr wurde viele Jahre später, 1949, die Erste Genfer Konvention. Der Grund für das Engagement: Dunant, selbst in Genf geboren, hatte als junger Mensch die blutigen Folgen der Schlacht von Solferino in Norditalien als Augenzeuge miterlebt. Zehntausende Menschen wurden getötet und verwundet. Von der Not der verwundeten Soldaten bewegt, rief Dunant zur Gründung nationaler Hilfsgesellschaften auf. Daraus wurde dann später das Internationale Komitee für das Wohlergehen der Verwundeten, das heute als IKRK bekannt ist.

Überall geehrt - selbst wie hier in Minsk, Belarus: Henry Dunant, geistiger Vater der KonventionenBild: dazhetak/Pond5/IMAGO

Die Schrecken des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) - die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Einsatz nuklearer und chemischer Waffen, die Gräuel in der Kriegsführung - waren 1949 schließlich der Grund für den Abschluss der vier Genfer Konventionen.  

Was steht in den Genfer Konventionen drin?

Die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle sind im Grunde das Kernstück des humanitären Völkerrechts. "Es handelt sich um internationale Verträge, in denen sich die Macher im Wesentlichen damit abfinden, dass es Kriege immer geben wird. Sie bilden das Regelwerk für die Durchführung bewaffneter Konflikte und zur Begrenzung der Brutalität von Kriegen", erklärt Sagoo.

Kriegsgefangene wie hier russische Soldaten in einem ukrainischen Lager (2024) genießen SchutzBild: Hanna Sokolova-Stekh/DW

Das Erste Übereinkommen schützt verwundete und kranke Soldaten und ziviles Hilfspersonal. Es garantiert eine humane Behandlung, medizinische Versorgung und Schutz vor Gewalt, einschließlich Folter und Mord. Es schreibt auch die Neutralität des medizinischen Personals und von medizinischen Einrichtungen vor. Das Rote Kreuz und der Rote Halbmond sind als sichtbare Zeichen zu tragen und sollen Schutz bieten.

Das Zweite Übereinkommen schützt verwundete, kranke und schiffbrüchige Mitglieder der Streitkräfte auf See. Das dritte Übereinkommen enthält besondere Regeln für die Behandlung von Kriegsgefangenen. Das vierte Übereinkommen schützt die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten, insbesondere in besetzten Gebieten.

Die Übereinkommen von 1949 sind inzwischen von allen Staaten der Welt ratifiziert worden. Dadurch ist dieses humanitäre Völkerrecht zu einem universellen Recht geworden. Verstöße gegen die Konventionen gibt es allerdings trotzdem - sie können von jedem Staat oder, unter bestimmten Umständen, von einem internationalen Gericht untersucht und verfolgt werden.

Welche Bedeutung haben die Genfer Konventionen heute?

Das humanitäre Völkerrecht umzusetzen ist generell schwierig. Man denke nur an die vielen nichtstaatlichen Player, die inzwischen in Kriegen aktiv sind, oder an neue Technologien wie autonome Waffen und künstliche Intelligenz. Die Einhaltung der Genfer Konventionen bleibt dabei auch nach 75 Jahren die vielleicht schwierigste Aufgabe.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den HaagBild: Florian Görner/DW

Dass sie noch heute oft gebrochen werden, heißt aber nicht, dass die Regeln nicht wirksam oder den Staaten egal seien, meint Rashmin Sagoo: "Die Durchsetzung war schon immer schwer, das ist Fakt. Auf die Umsetzung müssen die Staaten sich jetzt konzentrieren. Denn das ist nur in Friedenszeiten möglich".

Für Andrew Clapham besteht die einzige Möglichkeit, die Einhaltung der Genfer Konventionen sicherzustellen, darin, diejenigen, die gegen die Konventionen verstoßen, zu bestrafen. Regierungen, die andere Staaten bei der Verletzung der Konventionen unterstützen, müsse man für Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen. "In einigen Staaten darf man inzwischen keine Waffen mehr in dieses oder jenes Land exportieren - da geht es im Moment meist um Israel. Da heißt es dann, dass das eine Verletzung der Genfer Konventionen begünstigt oder dazu beiträgt, was nach nationalem und internationalem Recht genau so eine Verletzung der Konventionen darstellt", sagt er.

"Die Verfolgung von Kriegsverbrechen und Waffenexporte müssen wir jetzt im Auge behalten - das ist das Wichtigste, damit die Genfer Konventionen eingehalten werden können".

Dieser Text wurde aus dem Englischen übersetzt.

 

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