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Indien: Westliche Klischees und Irrtümer

Seerat Chabba Studio Delhi
14. August 2022

Vor 75 Jahren hat Indien sich unabhängig gemacht. Was macht das Land heute kulturell aus? DW-Autorin Seerat Chabba wirft einen kritischen Blick auf westliche Stereotype und Vorurteile.

Schulkinder in Schuluniform tragen eine riesige indische Flagge durch die Straße
Indien feiert am 15. August 2022 seine 75-jährige UnabhängigkeitBild: Amit Dave/REUTERS

Seien wir doch mal ehrlich: Für einen Großteil der westlichen Bevölkerung ist der durchschnittliche Inder ein bebrillter Ingenieur, der Buchstabierwettbewerbe gewinnt und mit einem seltsamen Akzent spricht - und das, obwohl wir hier von einem Land reden, das rund 1,38 Milliarden Einwohner hat und höchst divers ist. 

Indien feiert am Montag 75 Jahre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft. Indische Kultur und Talente haben seitdem große Teile der Welt erobert, von Yoga und Spiritualität bis hin zu den CEOs multinationaler Unternehmen wie Google und  Twitter. Dennoch dominieren in vielen Köpfen in Nordamerika und Europa noch immer vereinfachte Darstellungen des Landes. Zeit, mit ein paar Klischees aufzuräumen.

1. Inder ist nicht gleich Hindu

Beginnen wir mit den Grundlagen: Indien ist ein vielfältiges Land mit mehreren großen Religionen, darunter - aber nicht nur - Hinduismus, Islam, Christentum, Buddhismus, Sikhismus und Jainismus. Laut der indischen Volkszählung von 2011 bezeichnen sich außerdem etwa 2,9 Millionen Menschen als Atheisten.

In Indien können sich Sprache und Kultur alle 50 bis 100 Kilometer ändern, wobei ein einfaches "Hallo" innerhalb einer zweistündigen Autofahrt von "namaste" über "sat sri akal" zu "assalam alaykum" wechseln kann. Jeder Bundesstaat hat seine eigenen Hauptsprachen und Hunderte von Dialekten.

2. Es gibt keinen "indischen Akzent"

In einem Land, das so vielfältig ist, findet man nicht den einen "indischen Akzent", es sei denn, man meint damit das kultige Restaurant von Chefkoch Manish Mehrotra, das auf der Liste der 50 besten Restaurants Asiens steht ("Asia's 50 Best Restaurants"). 

Für Nicht-Kenner: Mehrotras "Indian Accent"-Restaurant hat Filialen in New York, London und Neu-Delhi und wirbt mit "globalem indischem Essen, nicht mit indischem indischem Essen", wie es der Koch selbst 2018 gegenüber der "South China Morning Post" beschrieb. 

Englisch ist die am zweithäufigsten gesprochene Sprache in Indien und wird daher häufig als Kommunikationsmittel zwischen verschiedenen Regionen verwendet, zum Beispiel zwischen einem Bengali-Sprecher aus dem östlichen Bundesstaat Westbengalen und einem Malayalam-Sprecher aus dem südlichen Bundesstaat Kerala.

Auch wenn viele Inder Englisch nicht als "Muttersprachler" beherrschen, können Sie sich sicher vorstellen, wie entsetzt sie sind, wenn sie mit dem "Apu-Akzent" aus "Die Simpsons" konfrontiert werden. Der US-Schauspieler Hank Azaria, der die Figur Apu seit dem Start der Serie im Jahr 1989 verkörperte, entschuldigte sich "bei jeder einzelnen indischen Person" und trat 2021 von seiner Rolle zurück. 

Apu Nahasapeemapetilon - hier an das Fenster geklebt - war eine beliebte Figur in "Die Simpsons"Bild: Damian Dovarganes/AP/picture alliance

3. Nicht alle Menschen in Indien leben vegetarisch

Im Westen gilt Indien als Vorreiter der vegetarischen Bewegung. Doch obwohl die Zahlen zwar insgesamt höher sind als im Rest der Welt, bekennen sich nur etwa 30 Prozent der Menschen dort zum Vegetarismus.  

Laut dem National Family Health Survey 2019/2020 konsumieren fast 70 Prozent der Inderinnen und Inder Fleisch oder Eier in irgendeiner Form und etwa sieben Prozent essen Rindfleisch. Die letztgenannte Zahl könnte jedoch aufgrund der kulturellen und politischen Implikationen, die ein solches Bekenntnis eventuell mit sich bringt, zu niedrig angesetzt sein. In den vergangenen Jahren wurde in dem mehrheitlich von Hindus bewohnten Land, in dem die Kuh als heilig gilt, hart gegen den Verzehr von Rindfleisch vorgegangen.

4. Romantisierung der Armut hilft nicht 

Danny Boyles "Slumdog Millionaire" brachte Indien zwar zu den Oscars, aber zu einem hohen Preis. Armut ist für die Mehrheit der Inderinnen und Inder alltägliche Realität: Nach Angaben der Weltbank leben fast 60 Prozent der Bevölkerung des Landes von weniger als 3,10 Dollar pro Tag.

Die voyeuristische Darstellung ihres Lebens auf der Kinoleinwand könnte als Romantisierung der Armut für ein westliches Publikum verstanden werden - sie zeigt überfüllte Straßen, offene Abwasserkanäle und unterernährte Kinder durch eine sepiafarbene Linse. Addiert man das "westliche Helfersyndrom" (den armen Menschen in Indien helfen wollen, ihr Schicksal zu überwinden) wie in dem Film "Million Dollar Arm" mit Jon Hamm oder in Patrick Swayzes "City of Joy", dann hilft das wenig, sondern nimmt den Einheimischen lediglich ihre Autonomie.

5. Die indische Filmindustrie ist nicht nur Bollywood

"Bollywood" oder die Hindi-Filmindustrie wird oft als einziger Vertreter des indischen Kinos angesehen. Aufwendige Hochzeiten, übertriebene Tanzszenen und kitschige Farben verstärken das Klischee, dass grandiose Kulissen und musikalische romantische Gesten das Wesen Indiens verkörpern.

Ein Wandgemälde des legendären indischen Filmemachers Satyajit Ray in Kolkata, WestbengalenBild: Indranil Aditya/NurPhoto/picture alliance

Indien aber produziert Filme in verschiedenen Sprachen. Einige seiner größten Juwelen wurden in regionalen Sprachen gedreht - von Satyajit Rays bengalischsprachigem Film "Pather Panchali" aus dem Jahr 1955 bis zum diesjährigen epischen Drama "RRR" in Telugu, das in der ersten Woche seines Erscheinens 90 Millionen Dollar einspielte. Das indische Filmuniversum ist riesig und wächst weiter. 

6. Indien ist nicht das Land der Selbstfindung

Hermann Hesses ikonischer Roman "Siddhartha" aus dem Jahr 1922 war für viele Europäer eine frühe Einführung in die "indische Art der Spiritualität" - trotz der jahrelangen kolonialen Übergriffe auf dem Subkontinent. 

Im Laufe der Zeit hat sich diese Faszination zu einem internationalen Trend entwickelt. Jedes Jahr reisen Tausende von Ausländern in heilige Städte wie Rishikesh und Haridwar, um Yoga und das alternative Medizinsystem Ayurveda kennenzulernen. 

Eine Frau läuft durch die Straßen von Rishikesh - einer heiligen Stadt, die von den Beatles besucht wurdeBild: Chris Cheadle/All Canada Photos/picture alliance

Doch während die Beatles und der Julia-Roberts-Film "Eat Pray Love" einige glauben lassen, sie könnten in den Straßen Indiens das Nirwana erreichen, ist vielen Menschen in Indien dieses offenkundig mystische und vom Aberglauben geprägte Bild, das in der Populärkultur verbreitet wird, mehr als suspekt. 

7. Vom indischen Essen bekommt man keinen Durchfall

Die Vielfalt Indiens lässt sich am besten am Essen ablesen. Jenseits von "Chicken Tikka Masala" und "Naan-Brot" - was übrigens "Brot-Brot" bedeutet - hat das Land eine gastronomische Landkarte, die es mit ganzen Kontinenten aufnehmen kann. Von Kaschmirs mehrgängigem "Wazwan" über Bihars "Litti Chokha" und Goas "Pork Vindaloo" bis hin zu Manipurs "Kangshoi", Rajasthans "Laal Maas" und Karnatakas "Pandi Curry" - die Aufzählung indischer Köstlichkeiten würde Unmengen an Papier erfordern.

Ein Mann hält einen Teller mit Wazwan, einem traditionellen mehrgängigen Gericht der kaschmirischen KücheBild: Aasif Shafi/Pacific Press/ZUMA/picture alliance

Auch wenn die Verwendung von Gewürzen nicht jedem zusagt, ist die gängige westliche Darstellung der indischen Küche als unglaublich scharf und überall gleich schlichtweg falsch. In einer zunehmend vernetzten Welt werden viele dieser Stereotype nach und nach als das entlarvt, was sie wirklich sind: antiquiert.

Doch auch wenn der Fortschritt langsam ist - und die Aufgabe eine Herkulesaufgabe - hat die Weltgemeinschaft eine zunehmende Lernbereitschaft gezeigt. Wenn die Menschen mehr Zeit in die Verbesserung ihrer interkulturellen Kenntnisse und Kompetenzen investieren, wird die Zukunft vielfältig und integrativ sein. Hoffen wir, dass "Incredible India" auch die Anerkennung bekommt, die es zweifellos verdient.

Adaption aus dem Englischen: Petra Lambeck

 

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