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8. Mai 1945: Zwischen Kapitulation und Befreiung

Veröffentlicht 8. Mai 2020Zuletzt aktualisiert 8. Mai 2023

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der ideologische Streit über historische Schuld und Verantwortung. Westdeutschland tat sich schwerer als der kommunistische Osten samt staatlichem Antifaschismus.

Ende Zweiter Weltkrieg Sowjet Flagge auf Reichstag
Ein Rotarmist hisst auf dem Berliner Reichstag die sowjetische Flagge - hier ein zu Propagandazwecken nachgestelltes Foto Bild: picture-alliance/dpa/J. Chaldej

Am 8. Mai 1945 schweigen endlich die Waffen. Der von Adolf Hitlers nationalsozialistischem Deutschen Reich 1939 entfachte Zweite Weltkrieg ist vorbei. Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht endet das millionenfache Blutvergießen - allerdings zunächst nur in Europa. Denn das mit Nazi-Deutschland verbündete Japan kämpft weiter und ergibt sich erst im August, als die USA über Hiroshima und Nagasaki Atombomben abwerfen.

Für die internationale Anti-Hitler-Koalition - angeführt von der Sowjetunion, den Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien und Frankreich - ist der 8. Mai trotz allen erlittenen Leids natürlich auch ein Grund zum Feiern. Ganz anders ist die Gemütslage im kriegszerstörten Deutschland, das von den Siegermächten in vier Besatzungszonen aufgeteilt wird. Die totale militärische Niederlage geht einher mit Gefühlen von Schuld und Scham. Das Deutsche Reich hat mit dem Überfall auf Polen den Weltkrieg ausgelöst und sich beispielloser Menschheitsverbrechen schuldig gemacht, allen voran der systematischen Vernichtung von sechs Millionen Juden.

Auch das Entsetzen darüber lässt bei den allermeisten Deutschen in den Jahren nach dem Krieg keinen Gedanken daran aufkommen, den 8. Mai als Tag der Befreiung zu empfinden. So wie es die Menschen in den lange von deutschen Soldaten besetzten Ländern Europas nach sechs Kriegsjahren tun. Jetzt haben sich die Vorzeichen umgekehrt: Kriegsverlierer Deutschland ist besetzt. Und im beginnenden ideologischen Krieg zwischen der kommunistischen Sowjetunion und den demokratischen West-Alliierten zeichnet sich die deutsche, aber auch die europäische Teilung ab.

Theodor Heuss: "Wir haben von den Dingen gewusst"

Am 8. Mai 1949, exakt vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, treffen sich in Bonn Politiker verschiedener Parteien, um das Grundgesetz für die in den West-Zonen entstehende Bundesrepublik Deutschland zu beschließen. Der Freidemokrat (FDP) Theodor Heuss reflektiert bei dieser Gelegenheit über das Kriegsende: "Im Grunde genommen bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind."

Theodor Heuss wird am 12. September 1949 im Bonner Bundestag zum ersten Präsidenten der Bundesrepublik vereidigtBild: picture-alliance/dpa

Im September 1949 wird Heuss zum ersten Bundespräsidenten gewählt. Drei Jahre später setzt er mit seinem Besuch im einstigen KZ Bergen-Belsen ein Zeichen. "Die Deutschen dürfen nie vergessen, was von Menschen ihrer Volkszugehörigkeit in diesen schamreichen Jahren geschah", sagt das westdeutsche Staatsoberhaupt angesichts des von Deutschland begangenen Holocausts. Und Heuss fügt hinzu: "Wir haben von den Dingen gewusst."

Ein Denkmal für die Rote Armee: "Der Befreier"

Während hochrangige Politiker der Bundesrepublik um Worte und Gesten für die im deutschen Namen begangenen Verbrechen ringen, zelebriert die am 7. Oktober 1949 gegründete Deutsche Demokratische Republik (DDR) den von der sowjetischen Besatzungsmacht übernommenen antifaschistischen Staatskult. Sichtbarstes Symbol ist die am vierten Jahrestag des Kriegsendes eingeweihte gigantische Denkmalanlage auf einem Berliner Gräberfeld mit über 5000 Gefallenen der Roten Armee.

"Der Befreier", ein Soldat der Roten Armee, ist die zentrale Figur des Weltkriegsdenkmals im Treptower Park in BerlinBild: picture-alliance/Bildagentur-online/Schoening

Im Mittelpunkt steht ein Soldat, der ein kleines Kind im Arm hält und mit seinen Stiefeln auf ein Hakenkreuz der Nazis tritt. Mit diesem 30 Meter hohen Monument prägen die Machthaber in der DDR vom ersten Tag an die Bildsprache ihres Gedenkens an das Kriegsende. "Der Befreier", wie die gigantische Figur genannt wird, ist ein Synonym für die über Nazi-Deutschland siegreiche Sowjetunion. Deren auf Gewalt und Unterdrückung basierendes Gesellschaftssystem stülpt ihr Diktator Josef Stalin ganz Osteuropa über.  

Walter Ulbricht geißelt den NATO-Beitritt der Bundesrepublik

Unter diesen Bedingungen stilisiert sich die DDR als Bollwerk gegen Faschismus und Imperialismus. Die Feinde werden westlich der Elbe und des Atlantiks verortet: allen voran die Bundesrepublik und die USA. Für einen selbstkritischen Umgang mit der deutschen Verantwortung für die Gräuel während der Nazi-Zeit bleibt da kein angemessener Raum. Zur prägenden Figur wird Walter Ulbricht, der im sowjetischen Auftrag die Zwangsvereinigung von Kommunisten (KPD) und Sozialdemokraten (SPD) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vorantreibt.

Konrad Adenauer (2.v.l.) freut sich in Paris über die bevorstehende Aufnahme der Bundesrepublik in die Nato Bild: picture-alliance/UPI

Unter seiner Führung entwickelt sich der 8. Mai als "Tag der Befreiung" zu einem jährlich wiederkehrenden Ritual, das die DDR bis ans Ende ihrer Tage für staatliche Propaganda instrumentalisiert. Im Mittelpunkt stehen dabei immer aktuelle politische Entwicklungen oder Ziele. So nutzt Ulbricht den zehnten Jahrestag des Kriegsendes für eine Abrechnung mit dem Beitritt der Bundesrepublik zum Nordatlantischen Verteidigungsbündnis (NATO). Auf einer Massenkundgebung mit 200.000 Menschen in Ost-Berlin wirft er dem Westen vor, sich gegen die Wiedervereinigung Deutschlands zu stellen, während die DDR als "friedliebender und demokratischer Staat" darum kämpfe.

Konrad Adenauer spricht von "Läuterung und Wandlung"

Zur gleichen Zeit betrachtet Bundeskanzler Konrad Adenauer die von ihm forcierte NATO-Mitgliedschaft als Vertrauensbeweis in die junge Demokratie. Das deutsche Volk habe die Untaten, die von einer verblendeten Führung in seinem Namen begangen worden seien, mit "unendlichen Leiden" bezahlt, sagt der Christdemokrat (CDU) zehn Jahre nach Kriegsende in Paris. "In diesen Leiden hat sich seine Läuterung und Wandlung vollzogen." 

Zum 20. Jahrestag des Kriegsendes nimmt Adenauers Nachfolger Ludwig Erhard (CDU) als erster hochrangiger Politiker im Westen das Wort "Befreiung" in den Mund. Allerdings ist es auf die Unfreiheit in den kommunistischen Ländern gemünzt. Wenn mit der Niederwerfung Hitler-Deutschlands Unrecht und Tyrannei aus der Welt getilgt worden wären, hätte die Menschheit Grund genug, "den 8. Mai als einen Gedenktag der Freiheit zu feiern".

Willy Brandt lobt Frauen, Flüchtlinge und Vertriebene

Es dauert weitere fünf Jahre, bis die politische Elite der Bundesrepublik ihren Blick auf das Kriegsende entscheidend ändert. Unter dem ersten SPD-Kanzler Willy Brandt werden 1970 der Moskauer und der Warschauer Vertrag geschlossen. Die Aussöhnung mit den einstigen Kriegsgegnern Sowjetunion und Polen sind Meilensteine der Entspannungspolitik. Dafür wird der Sozialdemokrat ein Jahr später mit dem Friedensnobelpreis geehrt.  

Willy Brandt 1970 vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos, das die Nazis vor allem für Deportationen in die Vernichtungslager nutzten. Nach dem niedergeschlagenen Aufstand im Frühjahr 1943 wurde das Ghetto zerstört Bild: Imago/Sven Simon

In seiner Rede zum 8. Mai fehlt zwar das Wort "Befreiung", umso mehr aber würdigt Brandt die Rolle der Frauen, Flüchtlinge und Vertriebenen am Wiederaufbau Deutschlands. Besonders lobt er "unsere Landsleute in der DDR". Sie hätten unter größeren Schwierigkeiten und gesellschaftlichen Bedingungen, "die sie sich nicht ausgesucht haben, Erfolge erzielt, auf die sie stolz sind und die wir voll anerkennen müssen".

Helmut Kohl spricht 1985 zweimal vom "Tag der Befreiung"

Unter Willy Brandts ehemaligem Außenminister Walter Scheel (FDP), seit 1974 Bundespräsident, ändert sich die westdeutsche Tonlage zur Bedeutung des 8. Mais 1945 wegweisend: "Wir wurden von einem furchtbaren Joch befreit, von Krieg, Mord, Knechtschaft und Barbarei", sagt er zum 30. Jahrestag des Kriegsendes. "Aber wir vergessen nicht, dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln." Das Staatsoberhaupt erinnert auch daran, dass Deutschland seine Ehre nicht erst 1945 verloren habe, sondern schon mit der Machtübernahme Hitlers 1933.

30. Januar 1933: Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt Adolf Hitler (r.) zum ReichskanzlerBild: picture-alliance/dpa

Zu verblüffend ähnlichen Einsichten gelangt 1985 ein anderer Bundespräsident: Richard von Weizsäcker. Die Rede des Christdemokraten 40 Jahre nach Kriegsende gilt in der allgemeinen Wahrnehmung als die größte und wichtigste zu diesem Thema. Dabei ist er keineswegs der Erste, der explizit vom "Tag der Befreiung" spricht. Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) tut es im selben Jahr sogar zweimal. Zunächst im Februar in seinem "Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland" und am 21. April im Beisein von US-Präsident Ronald Reagan anlässlich des 40. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen.

Richard von Weizsäcker: "Schauen wir… der Wahrheit ins Auge"

Das Besondere an von Weizsäckers Rede liegt darin, dass er niemanden ausschließt, als er über den 8. Mai 1945 vom "Tag der Befreiung" spricht: "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft." Im anderen Teil Deutschlands betont DDR-Machthaber Erich Honecker weiterhin das aus seiner Sicht Trennende zwischen Ost und West. Die Befreiung vom Hitler-Faschismus habe dem deutschen Volk die Chance gegeben, sein Leben auf völlig neuer Grundlage aufzubauen. "Diese Chance wurde bei uns genutzt."

Richard von Weizsäcker 1985: "Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart"Bild: picture-alliance/dpa

Zu einer ähnlichen Bewertung des Kriegsendes gelangen beide deutsche Staaten erst nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. In der DDR regiert für wenige Monate der einzige frei gewählte Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU). Am 45. Jahrestag des Kriegsendes 1990 sagt er auf dem Jüdischen Weltkongress in Berlin, der 8. Mai werfe "lange Schatten auf die Nachkriegsgeschichte der Deutschen" und er zeige auch ihre "Unfähigkeit zu trauern". Es gehe für sie darum, "mit dieser Geschichte ehrlich und wahrhaftig zu leben, sich von ihr mahnen und erinnern zu lassen". De Maizières Worte klingen fast wie die von Weizsäckers in seiner berühmten Rede 1985: "Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge."

Dieser Artikel wurde das erste Mal am 07.05.2020 veröffentlicht.

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