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Noch fehlt die große Geste der Versöhnung

18. Juni 2021

Zum 80. Jahrestag des Nazi-Überfalls auf die Sowjetunion hat Bundespräsident Steinmeier das Leid von Millionen Sowjetsoldaten thematisiert. Das politische Wagnis ist ihm geglückt, meint Christian F. Trippe.

Bundespräsident Steinmeier spricht im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst über das Leid der Sowjetsoldatern Bild: Jörg Carstensen/dpa/picture alliance

Die Deutschen reklamieren gerne für sich, sie hätten moralisch anerkannt, welche Schuld sie im Nationalsozialismus auf sich geladen haben. Der millionenfache Mord an Europas Juden und die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gelten als mehr oder minder gründlich aufgearbeitet.

Dieses historische Narrativ ist weit verbreitet. Doch ihm liegt ein Blick auf die Vergangenheit zugrunde, der sich vornehmlich nach Westen richtet. Die Rede von Bundespräsident Steinmeier zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion hat gezeigt, dass dieses Geschichtsbild viele Erfahrungen der Nationen in Osteuropa ausblendet.

Gezeichnet von Kriegsgefangenschaft

Wie ein roter Faden zog Steinmeier den Lebensbericht eines Rotarmisten durch seine Gedenkrede. Der Soldat Boris Popov erlebte die Schrecken des Krieges und die Entbehrungen der Kriegsgefangenschaft. So wie Millionen anderer Sowjetsoldaten auch.

Doch für ihre Leidensgeschichten fand sich in der Erinnerungskultur kein Platz: In Deutschland ist ihr massenhaftes Sterben und ihre oft unmenschliche Behandlung nie Teil des kollektiven Bestands an Erinnerungen geworden. Und die Sowjetunion begegnete ihren Heimkehrern aus der Gefangenschaft mit einem abgrundtiefen Misstrauen, das bis zur Repression ging. 

Christian F. Trippe ist Leiter der DW-Programme für Russland, Ukraine und OsteuropaBild: DW/B. Geilert

Das mag sich nun ändern, da im deutsch-russischen Museum eine neue Ausstellung exklusiv dem Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen gewidmet ist. An ihrer Eröffnung und an Steinmeiers Gedenkrede nahm der ukrainische Botschafter absichtlich nicht teil – aus Protest gegen den Ort, der "Deutsch-Russisches Museum Karlshorst" heißt. Er protestierte damit gegen eine Verengung auf Russland, wie er sie in der Namensgebung des Gedenkortes zum Ausdruck gebracht sieht.

Russische Geschichtspolitik

Der diplomatische Eklat um den offiziellen Vertreter der Ukraine warf ein kurzes, aber umso grelleres Schlaglicht darauf, welche Sprengkraft Erinnerungspolitik immer noch hat. Seit längerem wird in Russland Geschichtspolitik gemacht, um mit der Geschichte im Rücken Politik machen zu können.

So erfährt Sowjetdiktator Stalin derzeit eine Renaissance in Russland, die mehr ist als verschrobene Nostalgie. Einschlägige neue Gesetze der Russischen Föderation dekretieren strafbewehrt ein einseitiges patriotisches Geschichtsbild. Anderen Nachfolgestaaten des Sowjetimperiums, nicht nur der Ukraine, sitzt dieses groß-russische Geschichtsbild hingegen im Nacken – wird es doch genutzt, um neue Moskauer Herrschaftsansprüche zu begründen.

Es gehört zu Steinmeiers Leistung, all dies dezent, aber vernehmlich anzusprechen, ohne je vom Kern seiner Rede – dem Gedenken an die "deutsche Barbarei" – abzuweichen. So sprach er Dinge an und aus, die in Russland heute beileibe kein Allgemeingut sind: Der Stalinismus war ein Verhängnis. Geschichte darf nicht als Waffe missbraucht werden.

Frankreichs Präsident Francois Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl reichen sich vor den Massengräbern in Verdun die HändeBild: picture-alliance / Sven Simon

Historischer Händedruck  in Verdun

Und schließlich, Russlands aggressive Politik gegenüber der Ukraine: Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verpflichte dazu, für den Frieden zwischen den Ländern der ehemaligen UdSSR einzutreten, so Steinmeier. 

Immer noch fehlt die eine große Geste der Versöhnung – lesbar für alle Nachfahren der damals Überfallenen, in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Als sich der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident Francois Mitterrand 1984 in Verdun über den Massengräbern des ersten Weltkriegs die Hände reichten, war dies ein ikonographischer Moment.

Das Bild wurde sofort zur Chiffre der Aussöhnung, gelesen und verstanden auch in Belgien und den Niederlanden und andernorts im Westen. Etwas vergleichbares ist auf den Schlachtfeldern Osteuropas (noch) nicht denkbar, nicht in Wolgograd, nicht in Charkiw, nicht in Brest.

Eine Rede des Bundespräsidenten, gehalten in dem Saal, in dem Hitlers Wehrmacht 1945 kapituliert hat, kann diesen Moment nicht ersetzen – sie arbeitet aber auf ihn hin. 

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