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Literatur

9. Internationaler Literaturpreis: Die sechs Finalisten

Sabine Peschel
29. Mai 2017

Sechs Bücher sind noch im Rennen um den Internationalen Literaturpreis. Die Auswahl führt an die Brennpunkte unserer Zeit. Und sie stellt sich gegen den Trend zum langen Roman: Kurze Texte, sprachliche Herausforderungen.

Autor Hamed Abboud
Der syrische Autor Hamed Abboud steht auf der ShortlistBild: Nina Oberleitner

2017 vergeben das Haus der Kulturen der Welt und die Stiftung Elementarteilchen den Internationalen Literaturpreis zum neunten Mal. Dabei geht es um übersetzte Gegenwartsliteratur, oder genauer, wie es die Auslobung betont, "Gegenwartsliteraturen" - literarische Texte aus aller Welt in herausragender Übersetzung. Eine Longlist gibt es, anders als beim Deutschen Buchpreis oder dem Man Booker Prize, nicht, jedenfalls keine publizierte. Bekanntgegeben wird erst die enge Auswahl von sechs Titeln, die die siebenköpfige Jury für den Internationalen Literaturpreis aus etwa 150 eingereichten Titeln trifft.

Das ist schade, denn man würde gern noch mehr von den literarischen Weltberichten erfahren, die zur Debatte standen. Die sechs Titel der diesjährigen Shortlist jedenfalls bieten eine Fülle von Bezügen zum Zeitgeschehen. Zwei davon sind im klassischen Verständnis gar keine Romane, sondern Erzählungsbände, deren Kaleidoskop es trotzdem schafft, ein neues Universum zu entwerfen. Und bis auf ein Buch haben alle Texte ihre deutsche Existenz kleinen Verlagen zu verdanken -  unternehmerische Wagnisse, die jetzt mit der Shortlist-Nominierung belohnt wurden.

Hamed Abboud: Der Tod backt einen Geburtstagskuchen

Bild: edition pudelundpinscher

Das Universum in Hamed Abbouds kurzen Prosatexten ist ein gebrochenes, zwischen Syrien und Europa in viele Teile zersplittertes. Zusammengehalten wird es von Trotz und Sarkasmus - und von der bildstarken, assoziativen Sprache des Autors. Der 1987 im syrischen Deir ez-Zor geborene Abboud flüchtete Ende 2012 aus seinem Heimatland, gelangte über Ägypten, Dubai und die Türkei nach Österreich. Inzwischen lebt er in Wien. Doch der Tod, den viele seiner Freunde und Kollegen in Syrien oder auf der Flucht fanden, ist weiter lebendig: "Der Tod hat viele neue Freunde gefunden. Das muss der Tod feiern - und deshalb backt er einen Geburtstagskuchen."

Abboud, der zunächst als Lyriker hervorgetreten ist, verbindet in seinen Texten eine absurd erscheinende Realität mit Perspektiven, die das Leben erträglich machen - die Ungeheuerlichkeit des Krieges mit der trotzig-frechen Schönheit emotionaler Bilder. "Die Jugendlichen starben, als sie versuchten, mit großer Professionalität ein zusammengeknülltes Gedicht ins Ziel zu werfen, damit ein geöffnetes Fenster oder eine geöffnete Handtasche oder eine durch einen tiefen Atemzug entstandene Öffnung zwischen Busen und Baumwollbluse es aufschnappt." Tiefschwarzer, lebensbejahender Humor ermöglicht ihm auch in der Isolation eines österreichischen Dorfes das Überleben. Die Geschichte "Was wurde aus den Zugvögeln?" erzählt davon und, herzzerreißend kühl, vom "Beginn der neuen Welt, bis ich meine erste Welt zurückerhalte, meine Welt, die aus einem Zimmer bestand, welches nur ein paar Meter von meiner Familie entfernt lag."

Alberto Barrera Tyszka: Die letzten Tage des Comandante

Alberto Barrera TyszkaBild: imago/ZUMA Press

"Vielleicht war dies das besondere Talent von Chávez: Die Leute hörten ihm gerührt zu, weinten. Was er sagte, war die Wahrheit, die Wahrheit des Gefühls. Diese Beziehung war sein Charisma." Für die einen ist Hugo Chávez ein Befreier, der den Armen und Unterdrückten endlich wieder zu Würde verhilft, für die anderen ein populistischer Diktator, der Venezuela ins Chaos geführt hat. Auch durch die Familie des pensionierten Krebsmediziners Miguel Sanabria verläuft ein tiefer Graben. Als der "Lider máximo" gegen Jahresende 2012 in Kuba operiert wird, scheint die Präsidentschaft von Hugo Chávez zu Ende zu gehen. Die Reichen wittern Morgenluft und kehren nach Caracas zurück, doch das Land steht kurz vor der Apokalypse.

Alberto Barrera Tyszkas Roman über den venezolanischen Regenten Hugo Chávez zeigt eine Innenansicht der gespaltenen Gesellschaft Venezuelas. Doch der in seinem Heimatland sehr populäre und mit mehreren Auszeichnungen bedachte Autor vermeidet es, sich auf eine Seite des Grabens festzulegen. Parteilichkeit liegt dem 57-Jährigen fern. Doch die Geschichten aus einem zerrissenen Land, die sein Zeitroman erzählt, sind hochaktuell, finden sie doch ihre Fortsetzung in den heutigen, dramatischen politisch-sozialen Ereignissen.

Amanda Lee Koe: Ministerium für öffentliche Erregung

Amanda Lee KoeBild: Kirsten Tan

Die 29-jährige Amanda Lee Koe war der Shooting Star der Literaturszene, als 2013 in Singapur ihr Debütband erschien. Die junge Autorin und Herausgeberin lebt in Singapur und New York, sie schreibt auf Englisch und arbeitet unter anderem als Literaturredakteurin für den Esquire. Ihr Erzählband mit dem seltsamen Titel "Ministerium für öffentliche Erregung", im Original "Ministry of Moral Panic", wurde vielfach ausgezeichnet und sogar unter die zehn besten englischen Bücher Singapurs der letzten 50 Jahre gewählt.

Der Stadtstaat ist für seine Sauberkeit berühmt, weniger für seine Literatur. Das liegt sicherlich auch an den autoritären politischen Verhältnissen - die Medien unterliegen einer strengen Zensur. Die moralischen Grenzen sind eng gesteckt, freizügige Schilderungen tabu. Amanda Lee Koe versteht es in ihren Erzählungen, diese unsichtbaren Grenzen zu erweitern. Deddy Haikel mag alt sein, aber er erinnert sich noch an früher, als er sich in Ling Ko Mui verliebte und sich nicht um die Gesetze scherte, mit denen Singapurs Regierung das multi-ethnische Zusammenleben regeln wollte. Lee Koes Geschichten sind frech und doch zart, kühl und dabei emphatisch, phantasiereich, voller schräger Typen und trotzdem alltagsnah - ein beeindruckendes literarisches Debüt.

Han Kang: Die Vegetarierin

Han KangBild: picture-alliance/Yonhap

Han Kangs verstörendes Buch über eine Frau, die alles daran setzt, sich in eine Pflanze zu verwandeln, erschien im Original schon vor zehn Jahren. In Korea wurde es jedoch erst zum Bestseller, nachdem die englische Übersetzung 2016 den Man Booker International Prize erhalten hatte.

Eine Frau möchte zum Baum werden. Sie, die in den Augen ihres Mannes nie etwas Besonderes war, hört auf, Fleisch zu essen, entzieht sich durch Entkörperlichung. "Yeong-Hye will nicht mehr zur menschlichen Spezies gehören", erklärte die Autorin im Interview mit der Deutschen Welle ihre rätselhafte Protagonistin. Sie wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, in Rollen gedrängt: als vergewaltigte Ehefrau, verstoßene Tochter, bemitleidete Schwester und Geliebte, die um der Kunst willen begehrt ist. "Es ist ihr Leiden und ihre Bestimmtheit, die den Kern dieses Buchs ausmachen." Ein Roman über Macht und Obsession, gleichermaßen Kafka und traditionellen koreanischen Geistergeschichten verwandt.

Fiston Mwanza Mujila: Tram 83

"Eigentlich nichts Besonderes, dieses Tram 83. Alles schwarz, wie in der Höhle von Lascaux. Männer, Frauen, Kinder mit Kippen in der Hand. Weiter hinten eine Band, die hemmungslos ein Stück von Coltrane malträtierte, höchstwahrscheinlich Summertime." Doch das verruchte Jazzlokal ist ein magnetischer Ort, ein eigenes Universum in einer Welt, in der sich "Regierungsarmee und Abtrünnige von morgens bis abends bekämpfen". Stadtland hat sich von Hinterland losgesagt, und "Menschen aller Börsen der Welt" stürmen "die kleinste Hauptstadt der Welt", die nur aus dem Tram 83 und dem Bahnhof besteht. Prostituierte, Studenten, Organhändler und Kindersoldaten tanzen auf dem Vulkan, und mit ihnen Lucien, der Möchtegern-Theaterautor mit Frankreich-Ambitionen, und sein einstiger Freund Requiem.

Fiston Mwanza MujilaBild: picture-alliance/Francesco Gattoni/Leemage

Fiston Mwanza Mujilas Roman spielt in einer kongolesischen Minenstadt, die an Lubumbashi erinnert, die Hauptstadt einer rohstoffreichen Region. Diamanten und Kobalt gibt es auch in Stadtland, und Gangster, die sich für französisches Kino begeistern. Mwanza Mujilas wurde 1981 in Lubumbashi geboren, von dort musste er flüchten, als er zu publizieren begann. Jetzt lebt er in Graz, schreibt Lyrik, Prosa und Theaterstücke und unterrichtet afrikanische Literatur an der Universität. Mit seinem ersten, bereits preisgekrönten Roman ist ihm ein abgründiger Blick auf den Neokolonialismus und eine komische, surreale, sprachlich virtuose Improvisation über spätnächtliche Ausschweifungen gelungen.

Ziemowit Szczerek: Mordor kommt und frisst uns auf

Ziemowit Szczerek ist Historiker, spezialisiert auf den post-sowjetischen Osten. Der 1978 in Polen geborene Autor und Journalist hat über viele Jahre hinweg immer wieder die Ukraine bereist. "Mordor kommt und frisst uns auf" ist der Bericht des Autors über diese Reisen, die er in den letzten 20 Jahren unternommen hat. Ein Bericht, der mit herkömmlichen Reportagen und erzählenden Kommentaren nichts gemein hat. Szczereks unkonventioneller Bericht ist eine Parodie auf gewöhnliche Darstellungsweisen des "wilden Ostens" und postsowjetischen Dschungels, besteht aus persönlichen Erlebnissen und Eindrücken, Drogenvisionen und gefährlichen Abenteuern.

Bild: Verlag Voland & Quist

Szczereks Buch gilt als die erste polnische Gozo-Reportage, eine radikal subjektive Form des erzählerischen Journalismus. Seine Reiseberichte sind gefälscht, er hat die ukrainische Realität entstellt, hässlich übersteigert, in Alkohol getränkt und wüsten Exzessen anheim gegeben - monströs werden lassen wie der "Mordor" des Titels. Szczereks Aufzeichnungen erschienen im Original 2013. Seine grotesken Mystifizierungen haben sich als prophetisch erwiesen.

Zur Jury 2017 gehören die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Verena Auffermann, der Autor und Journalist Jens Bisky, der Übersetzer Frank Heibert, der Dramaturg Jens Hillje, der Autor und Verleger Michael Krüger, der Autor und Publizist Marko Martin und die Schriftstellerin Sabine Scholl. Das Preisträger-Duo wird am 20. Juni bekanntgegeben. Das Fest der Shortlist und die Preisverleihung finden am 6. Juli 2017 mit Lesungen, Materialgesprächen, Diskussionen und literarischen Untersuchungen im Berliner Haus der Kulturen der Welt statt. Es steht unter dem Motto "Reclaim Your Fictions". In diesem Rahmen werden auch die Preise vergeben: 20.000 Euro gehen an den Autor bzw. die Autorin, der Übersetzer oder die Übersetzerin erhält 15.000 Euro.

 

Die Shortlist-Titel im Überblick

Bild: Verlag Nagel & Kimche

Abboud, Hamed | Bender, Larissa: Der Tod backt einen Geburtstagskuchen
edition pudelundpinscher, März 2017
Arabisch: داليملا ديع ةكعك عنصي توملا 
edition pudelundpinscher, 2017 (zweisprachiges Original)

Barrera Tyszka, Alberto | Strobel, Matthias: Die letzten Tage des Comandante
Nagel & Kimche, August 2016
Spanisch: Patria o muerte
Tusquets Editores, 2015

 

 

Bild: CulturBooks

Han Kang | Lee, Ki-Hyang: Die Vegetarierin
Aufbau Verlag, August 2016
Koreanisch: 채식주의자
Ch'angbi, 2007

Koe, Amanda Lee | Beck, Zoë: Ministerium für öffentliche Erregung
CulturBooks Verlag, Oktober 2016
Englisch: Ministry of Moral Panic
Epigram Books, 2013

Mwanza Mujila, Fiston | Müller, Lena | Meyer, Katharina: Tram 83
Paul Zsolney Verlag, Juli 2016
Französisch: Tram 83
Éditions Métailié, 2014

Bild: Paul Zsolnay Verlag

Szczerek, Ziemowit | Weiler, Thomas: Mordor kommt und frisst uns auf
Voland & Quist, März 2017
Polnisch: Przyjdzie Mordor i nas zje 
czyli tajna historia Słowian Korporacja Ha!art, 2013

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