Friedenspreis für Initiativen gegen Rassismus
13. November 2021Der 19. Februar 2020 ist ein Tag, der nie vorübergeht. Nicht für die Angehörigen von Gökhan Gültekin, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Kaloyan Welkov, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu und Said Nesar Hashemi.
Es ist kein Zufall, dass diese neun Namen für deutsche Ohren fremd klingen: Der 43-jährige Attentäter hatte an diesem Schicksalsabend in der Hanauer Innenstadt ausschließlich auf Menschen gezielt, die er als Ausländer eingestuft hatte, wie Generalbundesanwalt Peter Frank wenige Tage nach dem Anschlag im Bundestag erklärte.
In zwölf Minuten hatte der psychisch kranke Mann mindestens 52 Mal abgedrückt. Es war der schwerste rassistisch und rechtsextremistisch motivierte Anschlag in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
"Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen"
Es kamen die Kameras, es kamen Politiker. Es gab Mahnwachen, Kundgebungen - und Beerdigungen. Die Angehörigen der rassistischen Morde aber wussten: Die Politiker und die Kameras würden wieder gehen, sie selbst würden bleiben. Und sie versprachen sich gegenseitig: Sie würden sich nicht allein lassen, sie würden sich nicht mit folgenloser Betroffenheit begnügen.
Sie gründeten mit weiteren Unterstützern die "Initiative 19. Februar Hanau". Ihre Forderungen fasst diese in vier Begriffen zusammen: "Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen."
Viele Fragen lassen die Angehörigen bis heute nicht los: Warum funktionierte der Notruf in der Schreckensnacht nicht? Warum durfte der Attentäter legal Waffen besitzen? Warum wurden Behörden nicht auf ihn aufmerksam, obwohl er Monate vor dem rassistischen Anschlag einen wirren Brief voller Verschwörungsmythen an den Generalbundesanwalt schickte?
Sie sind überzeugt: Die Gefahr von rechts wurde in Deutschland jahrzehntelang unterschätzt. Dagegen wenden sie sich, konsequent und unbequem. Auch wegen ihres Engagements befasst sich ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags mit möglichem Behördenversagen rund um das Attentat.
140 Quadratmeter für Solidarität, Begegnung und Gedenken
Die Initiative gründete ein soziales Zentrum als Ort für Begegnung und Beratung, in der Hanauer Innenstadt, direkt gegenüber vom ersten Tatort. Die 140 Quadratmeter sind dabei mehr als ein Büro, mehr als ein Ort der Solidarität, der Begegnung. Es ist auch ein Ort des Gedenkens für die Getöteten. Fotos und Zeichnungen ihrer Gesichter hängen an den Wänden und an der breiten Fensterfront.
Cetin Gültekin kommt fast täglich ins Büro der Initiative. Er hat seinen Bruder Gökhan bei der Attacke verloren: "Dieser Raum ist für mich, als wären wir bei Gökhan zu Besuch. Es ist sein Wohnzimmer", sagte Cetin Gültekin der DW Anfang des Jahres. "Und wenn Familie Unvar herkommt, ist es das Wohnzimmer von Ferhat." Ferhat Unvar kam ebenfalls in dem Kiosk ums Leben, in dem auch Gökhan Gültekin erschossen wurde.
Offener Brief an Angela Merkel
Ferhat Unvars Mutter hat kurz nach dem Attentat einen offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben. Darin hatte sie unter anderem die Einrichtung einer staatlich geförderten Stiftung gefordert. Sie selbst und andere Angehörige der Opfer sollten die führenden Akteure sein. Diese Stiftung solle "Aufklärungsarbeit gegen Hass und Rassismus leisten und das gemeinsame, friedliche Zusammenleben aller Einwohner dieses Landes" fördern.
Ein Jahr danach hatte Serpil Temiz Unvar noch immer keine Antwort aus dem Kanzleramt. Aber sie hatte die "Bildungsinitiative Ferhat Unvar" gegründet, im November 2020. Die finanziert sich allein aus Spenden.
"Die rassistischen Erfahrungen, die Ferhat im Alltag und vor allem auch in der Schule gemacht hat, haben unser Verhältnis beeinflusst. Wir haben oft deswegen gestritten. Ich habe mich oft hilflos gefühlt. Und ich bin sicher, Ferhat auch. Leider gab es niemanden, der uns helfen konnte", beschreibt Serpil Temiz Unvar auf der Webseite ihre Motivation.
Die Initiative bietet antirassistische Workshops in Schulen an, leistet Aufklärungsarbeit gegen Rassismus – und ist Anlaufstelle und Ort des Austauschs für Kinder und Jugendliche mit Rassismus-Erfahrungen.
Aachener Friedenspreis für Anti-Rassismusarbeit
Sowohl die "Initiative 19. Februar Hanau" wie auch die "Bildungsinitiative Ferhat Unvar" wurden an diesem Samstag mit dem Aachener Friedenspreis geehrt. Pressesprecherin Lea Heuser zeigt sich gegenüber der DW beeindruckt davon, wie die "Angehörigen trotz ihrer eigenen Traumata sagen: 'Wir möchten verhindern, dass so etwas in Zukunft wieder passieren kann'".
Es sei "unheimlich stark von diesen Menschen zu sagen: 'Okay, wir kämpfen um unsere eigenen Rechte. Und trotzdem kämpfen wir auch öffentlich um das große Ganze und gegen den Rassismus in der Gesellschaft aus der eigenen Betroffenheit heraus´".
Am Tag nach der Preisverleihung ist der Geburtstag von Ferhat Unvar: An diesem Sonntag (14. November) wäre er 25 Jahre alt geworden. Es ist zugleich der erste Jahrestag der Gründung der Bildungsinitiative, die seinen Namen trägt.