Abe setzt auf vorgezogene Neuwahlen
20. September 2017Wie japanische Medien berichten, wird Ministerpräsident Shinzo Abe am kommenden Montag die vorzeitige Neuwahl des Unterhauses ankündigen. Als wahrscheinlicher Termin gilt der 22. Oktober. Regulär würden Neuwahlen erst in einem Jahr abgehalten. Stabile Wachstumszahlen und eine zufriedene Grundstimmung dürften Abe die Entscheidung für diesen Schritt erleichtert haben und ihm das damit verbundene Risiko als kalkulierbar erscheinen lassen. Hinzu kommt die schlechte Lage, in der sich die Oppositionsparteien momentan befinden, die nicht mit überzeugenden Themen und Vorschlägen punkten können und durch Personal- und Bündnisquerelen geschwächt sind.
Die Gelegenheit zum Ausbau der Parlamentsmehrheit seiner LDP ist auch wegen des auf über 50 Prozent gestiegenen Zustimmungswertes zu seiner Regierung günstig. Noch im Sommer war Abes Popularität infolge eines Skandals um Vergünstigungen für Projekte von Bekannten durch das Erziehungsministerium in den Keller gerutscht: Ganze 26 Prozent betrugen seine Zustimmungswerte noch Ende Juli.
Abe nutzt Gefühl der Bedrohung durch Nordkorea
Seine neue Beliebtheit hat er Beobachtern zufolge zum großen Teil dem aggressiven Auftreten Nordkoreas zu verdanken. Abes beharrliche Forderungen nach einer gemeinsamen Front der internationalen Gemeinschaft gegen das nordkoreanische atomare Säbelrasseln ist in der japanischen Öffentlichkeit mit Genugtuung aufgenommen worden, muss sie doch schon seit Jahrzehnten mit Atom- und Raketenversuchen des kommunistischen Nachbarn leben, zu schweigen von den Entführungen japanischer Staatsbürger in den 70er und 80er Jahren durch nordkoreanische Agenten. Anfang September erfolgte dann der Test der bisher stärksten nordkoreanischen Atombombe - laut nordkoreanischer Propaganda handelte es sich um eine Wasserstoffbombe - und der Start zweier weiterer ballistischer Mittelstreckenraketen über japanisches Territorium kurz vor- und nachher.
Projekt Verfassungsänderung
"Abe glaubt, dass jetzt die Gelegenheit günstig sei, die Wähler für seinen Plan zur Revision der japanischen Nachkriegsverfassung zu gewinnen", meint Jeff Kingston von der Temple Universität in Tokio. Abe ist überzeugt, dass Japan den vielzitierten Artikel 9 seiner Verfassung ändern müsse, dem zufolge "das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation" verzichtet und "keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhält." Aus der Sicht Abes und anderer konservativer Politiker wurde der Text dem besiegten Japan nach dem Krieg aufgezwungen, entspreche aber nicht mehr den geopolitischen Realitäten von heute und müsse daher geändert werden.
Mag auch das Projekt der Verfassungsänderung weiterhin schwer erreichbar sein – zum einen wegen hoher verfassungsrechtlichen Hürden, zum anderen wegen der in der Bevölkerung verankerten pazifistischen Haltung – so hat er die Bevölkerung in punkto Sicherheit auf seiner Seite, sagt Jeff Kingston gegenüber der DW: "Nicht zuletzt wegen der Dauerberichterstattung über die nordkoreanischen Atom- und Raketentests ist das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung sehr real. Und da die Opposition keine überzeugende Alternative für den Umgang mit Pjöngjang hat, hat Abes LDP das Monopol für Sicherheitspolitik." Abe könne sich bei Kim Jong Un als Wahlkampfhelfer bedanken, meint Kingston.
Besonnene Führung oder Spiel mit Wählerstimmen?
Auch Stephen Nagy von der International Christian University in Tokio bescheinigt Abe, dass er die "Nordkorea-Karte sehr geschickt gespielt hat." Abe habe nach innen Führungsqualitäten im Verhältnis zu Nordkorea bewiesen und nach außen die Sicherheitspartnerschaft mit den USA bekräftigt. "Und Donald Trump hat sich revanchiert, indem er in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung das Schicksal der von Nordkorea entführten Japaner ansprach, was hier in Japan sehr gut angekommen sein dürfte", sagt Politologe Nagy. Auch, dass die EU ihre Sanktionen gegen Nordkorea verschärft hat, werde als Unterstützung für Abe gewertet und lass ihn bei den Wählern zusätzlich in positivem Licht erscheinen, sagt Nagy. Bei allem festen Auftreten gegenüber Nordkorea habe Abe sich – anders als der US-Präsident - aufstachelnder Rhetorik in Richtung Pjöngjang enthalten und einen Abschuss der Raketen über Japan nicht angeordnet. Auch dies werde ihm im In- und Ausland als besonnene Führung angerechnet.
Nicht alle Kommentatoren finden Abes "Spiel mit vorgezogenen Wahlen" sinnvoll. Naoto Nonaka von der Gakushuin-Universität in Tokio sagte gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, er halte Abes Entscheidung in der jetzigen Situation nicht für klug. "Dadurch verstärkt er unnötigerweise das Krisengefühl bei den Wählern, ohne dass er gleichzeitig konkrete Maßnahmen zur Lösung des Problems anbieten könnte."