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Politik

Opfer der Colonia Dignidad besuchen Deutschland

Victoria Dannemann
4. Juni 2019

Ihre Erinnerungen zeugen vom Horror der Colonia Dignidad. Für die Opfer der deutschen Sekten-Siedlung in Chile ist der Besuch in Berlin keine einfache Reise. Sie wollen auch das Projekt einer Gedenkstätte vorantreiben.

Austausch  mit Betroffenen der Colonia Dignidad
Rafael Labrín, Astrid Tymm und Johan Cisternas (von links nach rechts) Bild: FDCL/J. Stehle

Viele von ihnen sind zum ersten Mal in Deutschland. Der Besuch löst starke Gefühle aus: Es ist das Land, in dem alles begann, das Land, aus dem der Sekten-Gründer Paul Schäfer 1961 vor Missbrauchsvorwürfen nach Chile floh, um dort in einer abgelegenen Gegend zusammen mit seinen Anhängern eine totalitär-religiöse Gemeinschaft zu gründen, die Colonia Dignidad.

Für die Opfer der deutschen Sekten-Siedlung in Chile ist Deutschland auch das Land, das jahrzehntelang nicht auf Hinweise reagierte, dass an diesem Ort schreckliche Verbrechen begangen wurden. Viele der ehemaligen Vertrauten von Paul Schäfer, die von der chilenischen Justiz verurteilt wurden, leben straffrei und unbehelligt in Deutschland, darunter der Arzt der Sektengemeinschaft, Hartmut Hopp. 

"Aber es ist meine Heimat, und das bringt viele Emotionen mit sich", sagt Astrid Tymm, die in Gronau geboren wurde und als Siebenjährige mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in die Sekten-Siedlung in Chile kam. Vor zwölf Jahren verließ sie den Ort und zog noch weiter in den Süden Chiles. Es ist ihr erster Besuch in Deutschland.

Sie gehört zu einer Gruppe von 14 Opfern der Colonia Dignidad, die eine Woche lang in Berlin war. Sie nahmen an Workshops und Seminaren teil, besuchten Gedenkorte wie das Konzentrationslager Sachsenhausen und das Haus der Wannsee-Konferenz.

Die Reise wurde von Elke Gryglewski, der stellvertretenden Direktorin des Hauses der Wannsee-Konferenz, und Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, organisiert. Die Finanzierung lief über das Auswärtige Amt. Mit diesem für viele der Beteiligten schmerzvollen Besuch soll das Projekt einer Gedenkstätte auf dem Gelände der ehemaligen Colonia Dignidad, die heute "Villa Baviera" heißt, vorangetrieben werden.

Die Teilnehmer der Reise in der Gedenkstätte Haus der Wannsee-KonferenzBild: Haus der Wannsee-Konferenz/E.Gryglewski

"Wenn sie (die Opfer) andere Gedenkorte besuchen und die entsprechenden Debatten dazu hören, können sie Erfahrungen sammeln, die ihnen dabei helfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu definieren", sagt Gryglewski.

"Sie haben mir meine Kindheit genommen"

Die Berichte der Opfer der Colonia Dignidad zeugen von einem brutalen System der Herrschaft und der Ausbeutung, das über vier Jahrzehnte Bestand hatte: Sklavenarbeit, Prügelstrafen, Folter, Ruhigstellung mit Psychopharmaka, sexueller Missbrauch von Minderjährigen und unrechtmäßige Adoptionen.

Einige der Opfer unternahmen erfolglose Fluchtversuche, bis in die 90er Jahre, als Missbrauchsvorwürfe die Terrorherrschaft des Paul Schäfer erschütterten. Schäfer floh nach Argentinien, wurde 2005 verhaftet, und starb fünf Jahre später in einem chilenischen Gefängnis.

"Sie haben mir meine Kindheit genommen. Sie blieb in Deutschland zurück. Ich hatte keine Jugend. Die Trennung der Familien war sehr grausam. Ich habe meine Persönlichkeit, mein Ich verloren", sagt Astrid Tymm auf Spanisch mit hörbar deutschem Akzent.

Auch dem 46-jährigen Chilenen Rafael Labrín fällt es leichter, Deutsch zu sprechen. Es ist ein weiterer Beleg dafür, wie sehr die Sektengemeinschaft in Chile einen Staat im Staate bildete. "Ich wurde in der Colonia Dignidad geboren. Meine Mutter war arm und man sagte ihr, dass ich krank sei, und dass ich sterben würde, wenn sie mich mit nach Hause nehmen würde. Also blieb ich, wuchs dort auf und lernte Deutsch. Als meine chilenische Mutter nach mir fragte, sagten sie ihr, ich sei tot", erzählt er der DW.

Opfer der Colonia Dignidad in der Gedenkstätte SachsenhausenBild: Haus der Wannsee-Konferenz/E. Gryglewski

Rafael Labrín wurde von einem deutschen Siedlerpaar adoptiert und wuchs als Dieter Scholz auf, ohne seine wahre Herkunft zu kennen. "Aber ich hatte auch nie Kontakt zu meinen Adoptiveltern. Schon als Kind habe ich als Sklave arbeiten müssen, so dass mein Rücken stark beschädigt wurde", sagt er. Vor 14 Jahren verließ er die Sekten-Siedlung. Erst vor fünf Jahren traf er zum ersten Mal seine Mutter. Nun hat er wieder ihren Namen angenommen.  

"Wir erwarten eine Entschädigung. Was Deutschland anbietet, ist nicht das, was wir uns erhofft haben", sagt er und verweist auf die kürzlich angekündigte Zusage von bis zu 10.000 Euro für jedes Opfer. 

Eine Gedenkstätte für alle Betroffenen 

Die Opfer diskutieren gerade darüber, wie eine Gedenkstätte aussehen könnte. Für Astrid Tymm ist es wichtig, dass auch die heute in der "Villa Baviera" lebenden Menschen, die dort einen eher touristischen Folklorepark betreiben, das Leid der Opfer verstehen.

"Aber auch für diejenigen, die einen Verwandten verloren haben und eine Kerze oder Blumen ablegen wollen, wäre ein solcher Ort wichtig. Wir müssen uns treffen und wissen, dass wir alle Opfer sind", sagt Tymm. Sie bezieht sich dabei auch auf die verschwundenen Opfer der Pinochet-Diktatur, die in der Colonia Dignidad gefoltert wurden.   

"Es ist klar, dass eine solche Gedenkstätte ein unabhängiges Management benötigt, das die Leiden und Geschichten aller Opfergruppen respektiert", erklärt Elke Gryglewski. Dieser Herausforderung könnte, wie in Sachsenhausen, durch dezentrale Ausstellungen an verschiedenen Orten der ehemaligen Colonia Dignidad begegnet werden. Die deutsche Expertin wird einen Bericht über die Erkenntnisse dieser Reise erstellen und ihn auch allen Opfern zugänglich machen, die nicht daran teilgenommen haben. Im kommenden September wollen sich die Vertreter der unterschiedlichen Opfergruppen treffen, um das endgültige Konzept für eine Gedenkstätte festzulegen.

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