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Politik

Bulgarien: EU-Parlament fordert Monitoring

Christopher Nehring
27. September 2021

Der Streit um Abhöraktionen und Polizeigewalt während der Protestе 2020 in Bulgarien eskaliert. Europa-Abgeordnete, Minister und Mitglieder der Protestbewegung erheben schwere Vorwürfe - doch die Aufklärung stagniert.

Anti-Regierungs-Protest in Bulgarien
Polizeieinsatz gegen Demonstranten in der bulgarischen Hauptstadt Sofia am 22.09.2020Bild: Borislav Troshev/AA/picture-alliance

"Effektive und gerechte Strafverfolgung bleibt eines der dringendsten Probleme in Bulgarien. Die Verfolgung von Korruption auf hoher Ebene ist weiterhin problematisch. Zugleich ist die Delegation besorgt über Fälle von Polizeigewalt im Sommer 2020, die immer noch nicht ordnungsgemäß untersucht werden." Mit diesem Statement setzte Sophie in't Veld, Vorsitzende des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlamentes, nach ihrem Besuch in Bulgarien ein politisches Ausrufezeichen.

Dazu gehört auch die ungewohnt direkte Kritik am bulgarischen Generalstaatsanwalt Iwan Geschew. Dessen "außergewöhnliche Vollmachten" und sein Unwillen, der EU-Delegation Fragen zur Korruptionsbekämpfung und zur Untersuchung der Abhöraktionen und Polizeigewalt während der Protestwelle 2020 zu beantworten, sprach in't Veld auf einer Pressekonferenz in Sofia explizit an. Zum Abschluss forderte sie die Europäische Kommission auf, die Entwicklung in Bulgarien einem "strengen Monitoring" zu unterziehen.

Sophie in't Veld, Vorsitzende des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen ParlamentesBild: Jonathan Borg/Xinhua/imago images

Die harsche Kritik des Europaparlamentes kommt zu einem Zeitpunkt, in der Mitglieder der derzeit amtierenden bulgarischen Übergangsregierung beinahe wöchentlich neue Anschuldigungen zu den Ereignissen des Sommers 2020 erheben. Wie Mitte September 2021 durch im Internet geleakte Polizeiakten bekannt wurde, sollen 30 Mitglieder der Protestbewegung und insgesamt rund 1000 Personen während der Massenproteste abgehört worden sein. Ähnliche Vorwürfe erhebt der amtierende Innenminister der Übergangsregierung, Bojko Raschkow, bereits seit April dieses Jahres. Vergangene Woche legte Kulturminister Welislaw Minekow im Gespräch mit der DW nach: Nicht nur er selbst, sondern alle seine Gesprächspartner seien abgehört worden - darunter deutsche Journalisten.

Der Schlüssel, um die Komplexität der Abhöraffäre zu verstehen, ist Paragraph 95 des bulgarischen Strafgesetzbuches. Der definiert den Tatbestand des Umsturzes, der gewaltsamen Machtergreifung und des bewaffneten Aufstandes. Auf dieser Grundlage, so bestätigte Innenminister Raschkow, beantragte und erhielt die bulgarische Generalstaatsanwaltschaft im Sommer 2020 die richterliche Genehmigung, Mitglieder der Protestbewegung zu überwachen.

Journalisten abgehört

Doch woher kam der Vorwurf des Umsturzes und des bewaffneten Aufstandes? Im Juli 2020 beschuldigte Generalstaatsanwalt Iwan Geschew öffentlich den nach Dubai geflüchteten Glückspielmilliardär Wassil Boschkow, als Spiritus Rector und Verschwörer hinter der landesweiten Protestbewegung zu stehen. Der wegen Steuerschulden geflüchtete und von den USA mit Sanktionen belegte Boschkow, so die Version der Staatsanwaltschaft, bezahle zudem polizeibekannte Krawallmacher für Gewaltaktionen am Rande der Protestdemonstrationen.

Welislaw Minekow spricht auf einer Protestkundgebung in Sofia am 4.08.2020Bild: BGNES

Das war die offizielle Begründung für die erstmalige Anwendung des Umsturz-Paragraphen in der bulgarischen Geschichte. Formaljuristisch handelte es sich also um eine legale, richterlich angeordnete Überwachung. Auf diesen Standpunkt ziehen sich die Behörden während der laufenden Untersuchungen zurück. So auch im Fall des amtierenden Kulturministers Minekow. Er sagt der DW: "Ich habe offiziell bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt, ob ich abgehört wurde. Die Antwort war: 'Sie wurden nicht illegal abgehört.' Daraus habe ich geschlussfolgert, dass ich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft legal abgehört wurde und über mich auch alle meine Gesprächspartner, darunter deutsche Journalisten und Botschafter."

Zivilgesellschaftliche Proteste oder Umsturzversuch?

Ferner unterstreicht Minekow, der 2020 einer der wichtigsten Organisatoren der Massenproteste war, dass es sich bei diesen ausschließlich um legale, gewaltfreie und zivilgesellschaftliche Demonstrationen gehandelt habe und eine "gewaltsame Machtergreifung oder ein Umsturz gar nicht möglich gewesen seien". Beweisen lassen sich diese Angaben nicht. Allerdings wäre es nicht der einzige Fall, in dem Journalisten bei der Ausübung ihres Berufes von bulgarischen Behörden abgehört wurden.

Protestierende in Sofia am 29.07.2020Bild: Reuters/S. Nenov

Im Juni veröffentlichte die Investigativplattform bird.bg Polizeidokumente, denen zufolge mehrere Journalisten, darunter die Leiterin des Sofioter Büros der Presseagentur Agence France-Presse (AFP), Wesela Sergiewa, abgehört wurden, als sie mit Vertretern von Protestgruppen sprachen.

Geheimhaltung statt Aufklärung

Die Aufklärung der Überwachungsmaßnahmen wird durch politische Grabenkämpfe ausgebremst. Der Vorsitzende der parlamentarischen Untersuchungskommission, Nikolai Hadschigenow, sprach im August davon, dass es sich dabei um "die größte Massen-Abhörung bulgarischer Bürger in der jüngeren bulgarischen Geschichte" handle. Doch bislang fand die Untersuchungskommission keinen Weg, die von Staatsanwaltschaft und Polizei auferlegte Geheimhaltung der einzelnen Vorgänge zu umgehen.

Polizisten am Rande einer Protestkundgebung in Sofia am 23.07.2020Bild: DW/M. Milkova

Das Ausmaß der Lauschaktionen, die Namen der Betroffenen und die Inhalte der Abhörprotokolle bleiben der Öffentlichkeit also weiter verborgen. Dass gleichzeitig immer wieder brisante Dokumente im Internet geleakt werden, erleichtert es den Beschuldigten, die Vorwürfe als politisch motiviert abzutun.

Dies gilt auch für die Vorwürfe von Polizeigewalt während zweier Demonstrationen im Juli und im September 2020, die ebenfalls von der Hadschigenow-Kommission untersucht werden. Rund ein Jahr nach den Ereignissen, am 13.08.2021, wurde ein schockierendes Video veröffentlicht: Die 18-minütige Aufzeichnung einer Sicherheitskamera vor dem Gebäude des Ministerrates zeigt, wie ein Demonstrant von einer Gruppe Polizisten in den von Säulen verdeckten Raum vor dem Gebäude gezerrt und am Boden liegend minutenlang getreten und mit Knüppeln geschlagen wird.

Doch seitdem stagnieren die Untersuchungen: Sechs Polizisten waren bereits 2020 mit dienstlichen Disziplinarverfahren wegen "übertriebener Gewaltanwendung" belegt worden; der damalige Innenminister Mladen Marinow wurde fünf Tage nach dem Vorfall mit einer anderer Begründung ausgetauscht; und sein Nachfolger Hristo Terzijski beteuerte vor dem Ausschuss, er selbst habe die Untersuchungen zu den Vorfällen angestoßen. Politische oder rechtliche Konsequenzen? Auch hier: Fehlanzeige.