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GesellschaftNordamerika

Brasilien: Das Stigma der Abtreibung

Malu Delgado
11. Juli 2022

In Brasilien wurden 2021 mehr als 52.000 Frauen und Mädchen vergewaltigt. Die Mehrheit von ihnen war minderjährig. Obwohl Abtreibung nach einer Vergewaltigung erlaubt ist, wird sie oft verhindert.

Brasilien Symbolbild Protest Abtreibung
Für die einen sind Abtreibungen tabu, andere kämpfen für Lockerungen: Protest für die Legalisierung von Abtreibungen in Rio de Janeiro (Archiv)Bild: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images

Mehr als eine halbe Million Menschen sind im vergangenen Jahrzehnt Opfer einer Vergewaltigung in Brasilien geworden. Allein im vergangenen Jahr waren es 52.000 Frauen - dies geht aus dem Jahrbuch der öffentlichen Sicherheit 2022 hervor, das das regierungsunabhängige Brasilianische Forum für öffentliche Sicherheit (FBSP) am 28. Juni veröffentlicht hat.

Laut Statistik gehörten 70 Prozent der Frauen sogenannten verwundbaren Personengruppen an. Dabei handelt es sich um Minderjährige unter 14 Jahren oder um nicht entscheidungsfähige Personen. 61,2 Prozent der Vergewaltigungsopfer im Jahr 2021 waren zwischen null und 13 Jahren alt (siehe Grafik).

Die Statistik belegt, wie stark sexualisierte Gewalt zum Alltag in Brasilien gehört. In der Gruppe der vulnerablen Personen gingen 80 Prozent aller Fälle auf Täter und Täterinnen zurück, die aus dem Bekanntenkreis oder dem familiären Umfeld der betroffenen Kinder und Jugendlichen stammten, also Eltern, Stiefeltern, Großeltern, Geschwister, Freunde und Nachbarn. 

Mit zehn Jahren schwanger

Zwei Fälle sorgten in jüngster Zeit für öffentliches Aufsehen im Land: Einem mittlerweile elfjährigen Mädchen aus dem südlichen Bundesstaat Santa Catarina wurde nach einer Vergewaltigung eine Abtreibung in der 29. Woche verweigert.

Erst nach heftigen öffentlichen Protesten schaltete sich die Staatsanwaltschaft ein und verpflichtete das Universitätskrankenhaus in der Landeshauptstadt Florianópolis, den legalen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Dies ist nicht der erste Fall, bei dem in Brasilien in der Öffentlichkeit über das Recht auf Abtreibung für schwangere Kinder gestritten wurde.

Minderjährige Mädchen sind laut Statistik am stärksten von Abtreibungen betroffen

Nach brasilianischem Recht ist eine Abtreibung in den folgenden drei Fällen erlaubt: Nach einer Vergewaltigung, bei schweren Gehirnschäden des Embryos (Anenzephalie) oder bei Lebensgefahr für die Mutter. Es gibt keine zeitliche Beschränkung für den Abbruch.

"Entsetzen über abscheuliche Gewalt"

Beim zweiten Fall, der Aufsehen erregte, handelt es sich um die 21-jährige Schauspielerin Klara Castanho, die nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und sich entschloss, ihr Baby zur Adoption freizugeben. Trotz Arztgeheimnis gelangten Informationen über den Vorfall an die Öffentlichkeit und Castanho sah sich wüsten Beschimpfungen in digitalen Medien ausgesetzt.

Sie wandte sich daraufhin in einem offenen Brief über Instagram an die Öffentlichkeit: "Dies ist die schwierigste Bekanntgabe meines Lebens. Ich dachte, ich würde diesen Schmerz und diese Last allein mit mir selbst ausmachen. Mein Privatleben auf diese Weise öffentlich zu machen, löst bei mir Entsetzen aus. Doch angesichts der Verschwörungen und Gerüchte über abscheuliche Gewalt, die mir widerfahren und die mich traumatisieren, kann ich nicht schweigen: Ich wurde vergewaltigt", heißt es in dem Post.

Je jünger, desto verletzlicher

Luciana Temer, Direktorin des Instituto Liberta, erklärt: "Wenn wir sehen, dass die Vergewaltigung von Minderjährigen so weit verbreitet ist, müssen wir über Aufklärung und Prävention sprechen. Es ist sehr wichtig, dass die brasilianische Gesellschaft erkennt, dass sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen größer ist als gegenüber Frauen", erklärt sie im DW-Gespräch.

Der 2016 in São Paulo gegründete Verein organisiert Kampagnen und Projekte gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen. Direktorin Temer, Professorin für Verfassungsrecht an der Katholischen Universität São Paulo (PUC-SP), weiß, wovon sie spricht: Sie war bereits Ministerin für Jugend und Sport im Bundesstaat São Paulo sowie Sozialdezernentin der Mega-Metropole.

"Sex mit unter 14-Jährigen ist Vergewaltigung"

Für Ana Cifali vomInstituto Alana, einer brasilianischen NGO für Kinderrechte, stehen beide Fälle exemplarisch für die kontinuierlichen Verstöße gegen die brasilianische Verfassung. "Bei Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen unter 14 Jahren handelt es sich immer um eine Straftat, immer um Vergewaltigung, auch wenn er scheinbar einvernehmlich vollzogen wird", stellt die Juristin klar.

Im brasilianischem Strafrecht wird Vergewaltigung verwundbarer Personen in Artikel 217 als "Akt körperlicher Vereinigung oder einer anderen Form sexuellen Libidos mit Minderjährigen unter 14 Jahren" definiert. Das dafür seit 2009 vorgesehene Strafmaß schwankt zwischen acht und 15 Jahren.

Aus einer Erhebung der brasilianischen Tageszeitung "Folha de S. Paulo", die auf Daten des öffentlichen brasilianischen Gesundheitssystems basiert, geht hervor, dass 2021 auf jede legale Abtreibung elf Notfallbehandlungen kamen. Dabei handelte es sich entweder um spontane Abtreibungen oder um Folgekomplikationen von Abtreibungen, die nicht stationär vorgenommen worden waren.

Protest am Frauentag in diesem Jahr in Rio: "Ich bin Mutter und bin für legale und sichere Abtreibung"Bild: Mauro Pimentel/AFP/Getty Images

Angst vor Ächtung

Eine andere Untersuchung belegt das immer noch vorherrschende Stigma gegenüber Abtreibungen in Brasilien: Nach einer Erhebung des Nachrichtenkanals G1 entschieden 40 Prozent aller Frauen, die zwischen Januar und Februar 2021 eine legale Abtreibung vornehmen ließen, den Eingriff außerhalb der Stadt machen zu lassen, in der sie wohnten.

Das Instituto Alana hat deshalb im Vorfeld der Wahlen am 2. Oktober gemeinsam mit hundert anderen Organisationen einen Forderungskatalog zur Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt an alle Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten übergeben.

Vorbild Großbritannien

Für Luciana Temer vom Instituto Liberta sind Aufklärung und Information entscheidend. Sie verweist auf das Beispiel Großbritannien, wo Sexualkunde in den vergangenen 20 Jahren kontinuierlich auf den Lehrplänen der Schulen stand. Dies habe auch zu einem deutlichen Rückgang von Teenagerschwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten geführt.

Sie bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel: "Mit Kindern in der Schule über Sexualität zu sprechen, führt nicht dazu, dass diese früher sexuell aktiv werden, wie dies in Brasilien fälschlicherweise behauptet wird", erklärt sie gegenüber der DW. "Im Gegenteil. In Großbritannien beginnen Mädchen ihre sexuellen Beziehungen später als in Brasilien und diese sind auch gesünder."

Aus dem brasilianischen Portugiesisch adaptiert von Astrid Prange de Oliveira.

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