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Politik

Brandts Kniefall und die deutsche Schuld

7. Dezember 2020

Der polnische Publizist und Deutschlandkenner Adam Krzemiński über die Wirkung des Kniefalls von Warschau vor 50 Jahren in Polen und über die Haltbarkeit der polnischen Abneigung gegen Deutschland.

Kniefall von Warschau 1970 Willy Brandt
Auf diesem der Foto des knienden Kanzlers sieht man nicht nur die Überraschung der Zuschauer, sondern auch Misstrauen und Abneigung einer Brandt halbwegs abgewandten FrauBild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Krzemiński, wie haben Sie Brandts Kniefall erlebt? Sie waren damals 25 Jahre alt…

Adam Krzemiński: Ich habe damals schon als Journalist gearbeitet, hatte in Warschau und Leipzig Germanistik studiert und wusste mehr über Deutschland als ein Durchschnittspole meiner Generation. Ich habe auf Brandts Besuch gewartet. Er war ein ausdrucksstarker Politiker und man konnte mit ihm Hoffnungen auf eine gewisse Wende in Europa verbinden. Wenn man so will der "deutsche Kennedy".

Der "deutsche Kennedy": Der damalige Regierende Bürgermeister Berlins Willy Brandt (2.v.r. im Auto) mit Bundeskanzler Konrad (1.v.r.) Adenauer und US-Präsident John F. Kennedy (2.v.l.) 1963 in West-BerlinBild: picture-alliance/dpa/UPI

Ich wollte ihn sehen und konnte ihn mit der Straßenbahn erst am Ghettodenkmal erreichen. Ich sah ihn von weitem aus der Staatskarosse aussteigen, kam näher an die Menschentraube heran und bemerkte, wie sich sein Kopf senkte. Die ganze Ausstrahlungskraft des Kniefalls realisierte ich erst am nächsten Tag, als ich in der Redaktion die westdeutschen Zeitungen sah. Erst da war mir klar, dass etwas Außergewöhnliches passiert war.

Die polnischen Medien haben den Kniefall damals nicht eben hervorgehoben. Gab es keinen Bericht darüber im Fernsehen?

Die Nachrichten dominierte natürlich die Unterzeichnung des Grenzvertrages. Da flimmerte wohl auch ganz kurz ein Bild des knienden Bundeskanzlers. Sicherlich unkommentiert.

Und die polnische Presse?

Es gab ein Bild in der jüdischen Zeitung "Folksstimme". Und in der Wochenzeitschrift, für die ich damals arbeitete und die Artikel der Weltpresse nachdruckte. Und ich glaube noch in einer Tageszeitung. Alle Bilder waren klein und wie damals üblich von miserabler Qualität.

Das 1948 fertig gestellte Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos in der polnischen HauptstadtBild: Wolfgang Frotscher/ZB/picture alliance

Die Zensur sorgte auch später penibel dafür, dass der Kniefall auch wirklich keine Ikone wurde. Als ich meine Texte über Deutschland mit dem knienden Kanzler bebildern wollte, wurde das Bild von der Zensur unten abgeschnitten. Es sah dann aus, als ob Brandt stehen würde.

Warum hatte die Warschauer Staatsführung ein Problem mit der Geste?

Aus zwei Gründen. Das eine war die Angst der Regierenden, dass der Kniefall eine Sympathiewelle nicht nur für Brandt, sondern für ganz Westdeutschland auslösen würde. Der kniende Kanzler störte das Bild vom deutschen Revanchismus, das zu einem der Fundamente der kommunistischen Staatsraison wurde, denn mit virulenter deutscher Bedrohung konnte man auch die Abhängigkeit der Regierenden von Moskau begründen.

Das Bild vom deutschen Revanchismus war im kommunistischen Polen Staatsraison: Parteichef Edward Gierek (M.) 1971 in Stettin mit streikenden WerftarbeiternBild: picture-alliance/pap/UPI

Das andere aber war der Ort des Kniefalls, das Ghetto-Denkmal. Wäre Brandt vor der "Warschauer Nike" - gewidmet den Helden Warschaus 1939-1945 - auf die Knie gefallen, hätten wahrscheinlich die Nationalkommunisten in der Polnischen Arbeiterpartei gehässig behaupten können, der deutsche Bundeskanzler habe seinen Kopf unter das polnische Schwert gelegt. Eine solche Missdeutung wäre natürlich inakzeptabel gewesen. Zu Recht wählte die deutsche Delegation das zivile Denkmal des Völkermordes im ehemaligen Ghetto.

Bis heute argumentiert die politische Rechte in Polen, Brandt habe sich nicht bei den Polen entschuldigt, sondern "nur" bei den Juden. Was halten sie davon?

Nichts. Ich fand und finde, dass Brandt vor dem richtigen Denkmal niederkniete. Er hatte keine "Selektion der Opfer" im Sinn. Es war kein Kniefall vor einer einzigen Opfergruppe, und darin liegt die Größe dieser Geste. Der Tag und Kontext - die Anerkennung der polnischen Westgrenze - wiesen auf die universelle Zielsetzung der Brandt‘schen Geste. Und gerade darin ist sie einzigartig und unwiederholbar.

Wäre Brandt vor der "Warschauer Nike" auf die Knie gefallen, hätten die Nationalkommunisten gehässig behaupten können, der deutsche Kanzler habe seinen Kopf unter das polnische Schwert gelegtBild: BE&W/imago images

In welcher Kette von Ereignissen sehen Sie Brandts Kniefall?

Zuerst mit dem Tag der Anerkennung der Oder-Neiße Grenze. Die hatte eine dramatische Vorgeschichte. Die langwierige und schmerzliche Debatte in Westdeutschland hatte sowohl eine realpolitische als auch eine moralpolitische Dimension. Realpolitisch war die Überlegung nach dem Mauerbau in Berlin 1961, dass die Mauer nur über die Anerkennung der deutschen Ostgrenze durchlässiger gemacht werden kann. Moralpolitisch war hingegen der Prozess der inneren Akzeptanz nicht nur der Grenze, sondern auch generell der polnischen Nachbarn hinter ihr.

Der Kniefall steht für die enorme Anstrengung, die viele Deutsche - wie die vorgezogene Wahl 1972 zeigten, war das sogar die Mehrheit der Bundesbürger - verinnerlicht haben. Sie setzten sich mit der deutschen Schuld und Sühne auseinander, begannen neu über den seit Generationen verachteten Nachbarn im Osten zu denken. In der Zwischenkriegszeit war Polen in der deutschen Mentalität ein "Saisonstaat" gewesen, nach dem Krieg Hauptnutznießer der deutschen Niederlage. Jetzt wurden Polen Nachbarn, Partner und privat vielerorts sogar Familienmitglieder.

Willy Brandt beim SPD-Parteitag 1972 in Dortmund. Die Bundestagswahl im selben Jahr endet mit der größten Zustimmung für die SPD in der Geschichte WestdeutschlandsBild: picture alliance / Klaus Rose

Sie wurden in den letzten Kriegsmonaten geboren. Brandt war der erste deutsche Kanzler, der nach dem Krieg polnischen Boden betrat. Wie beeinflusste die Geste das Bild des Deutschen in Polen?

Brandts Geste war eine Ikone der neuen Zeiten, einer neuen Generation und Partnerschaft. Die hat in den 70er Jahren begonnen - mit der Teilöffnung der Grenze, dem sogenannten "Heimattourismus", als viele Westdeutsche in ihre alte Heimat reisten. Und viele Polen erhielten Pässe und konnten die BRD besuchen. Es war die erste, nicht vollständige und kontrollierte Öffnung, zeigte aber vielen Polen, dass die Deutschen nicht nur Revanchisten waren, sondern auch Menschen, die in Polen das Gespräch suchten und auch fanden.

Auf einem der Fotos des knienden Kanzlers (siehe Aufmacherbild; d. Red.) sieht man aber nicht nur die Überraschung der Zuschauer, sondern auch Misstrauen und Abneigung einer Brandt halbwegs abgewandten Frau. Die Geste selbst hat noch kein Paradies auf Erden geschaffen.

Die heute in Polen regierende Partei "Recht und Gerechtigkeit" PiS behauptet, sie habe den Polen geholfen, sich außenpolitisch "von den Knien zu erheben". Welche Assoziationen sollen hier wachgerufen werden?

Nationale Würde, Wichtigkeit und Wehen. Das wird aber leider immer wieder mit Tumbheit, Hochmut und selbstverliebter Wehleidigkeit vermengt. Es ist keineswegs nur ein polnisches Phänomen, dass verbissener Nationalismus oft nur Minderwertigkeitskomplexe und gefräßige Aufstiegssehnsüchte übertüncht.

Der PiS-Politiker Andrzej Duda (hinter dem Pult) feiert im Juli 2020 mit Anhängern seine Wahl zum Präsidenten PolensBild: Getty Images/M. Hitij

In einem katholischen Land wie Polen nimmt das manchmal Formen geradezu heidnischer Beschwörungen an. Die Rechte in vielen Ländern Europas legt eine schwarze Montur an, stellt Schlägertrupps auf, beschwört die Rettung des christlichen Abendlandes - kennt aber keine Schuldbekenntnisse und keine Bergpredigt.

Ein PiS-Abgeordneter sagte gegenüber der DW, Brandts Kniefall sei eine leere Geste gewesen, weil darauf keine Wiedergutmachung gegenüber Polen folgte. Was halten sie von dieser Meinung?

Nichts. Ein Hinterbänkler möchte sich eine Position am rechten Parteiflügel aufbauen, indem er politische "Softpower" nicht würdigt und politische Moral nur in barer Münze akzeptiert. Das ist erbärmlich, auch wenn man weiß, dass die westdeutsche Politik seit dem Londoner Schuldenabkommen 1953 mit sehr gezinkten Karten gegenüber Polen gespielt hat.

Auf der anderen Seite übersehen die polnischen Nationalen zu gerne vieles von dem, was die Bundesrepublik und die Bundesbürger über Jahrzehnte für die Stärkung der Wirtschaft in Polen, für die Verankerung Polens in den westlichen Strukturen sowie an solidarischer Hilfe während des Kriegszustandes geleistet hat.

Haben Sie Willy Brandt persönlich erlebt?

Mehrmals. Ich habe ihn 1985, vor seiner Reise nach Polen, interviewt. Dann habe ich ihn bei SPD-Parteitagen erlebt und beim bewegenden Treffen mit Lech Wałęsa nach dem Mauerfall, als Brandt offen zugab und sich dafür entschuldigte, dass er die Solidarność unterschätzt hatte.

Rührend war auch ein Zusammentreffen mit ihm kurz nach dem Mauerfall. Es war in der überfüllten Beethoven-Halle in Bonn. Brandt war der Hauptredner. Hinterher ging er auf mich zu und sagte mir: "Seien Sie auf der Hut vor der deutschen Juristerei". Ein Altbundeskanzler warnte einen polnischen Journalisten vor den Winkelzügen der deutschen Politik. Alle Achtung!

Das war eine europäische Geste. Ich kann mir ähnliche Worte aus dem Munde eines Politikers aus einem anderen Land heute kaum vorstellen. Brandt war so etwas wie ein Kleinod der Bonner Republik.

Bild: picture-alliance/dpa/A.Burgi

Adam Krzemiński, geb. 1945, ist ein polnischer Publizist, Redakteur der Wochenzeitschrift "Polityka". Er studierte Germanistik in Warschau und Leipzig und gilt als einer der besten Deutschlandkenner Polens.