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Literatur

Dichter Adonis beim Münchner Literaturfest

Sabine Peschel
19. November 2015

Der syrische Dichter Adonis hält bei der Eröffnung des Münchner Literaturfests ein entschiedenes Plädoyer gegen den Islam als institutionalisierte Religion. Europa wirft er vor, den Terror viel zu spät erkannt zu haben.

Der syrische Poet Ali Ahmad Said Asbar oder Adonis (AFP)
Bild: Getty Images/AFP/J. Guerrero

Ehrengast bei der Eröffnung des Münchner Literaturfests am Mittwoch Abend (18.11.) ist der syrische Dichter Adonis, und es ist ein ganz besonderer Moment, als er unter großem Beifall die Bühne betritt. Vielen Zuhörern im Publikum dürfte bewusst gewesen sein, dass Ali Ahmad Said Esber, wie er eigentlich heißt, in den letzten Wochen von Schriftsteller-Kollegen kritisiert wurde: Er habe sich zu wenig von Syriens Diktator Assad und dessen brutalem Unterdrückungssystem distanziert.

In München präsentiert ihn der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner in seiner Rolle als Moderator des Abends als das, was Adonis tatsächlich ist: einer der bedeutendsten arabischen Intellektuellen der Gegenwart und Mittler zwischen den Kulturen, der immer wieder für den Nobelpreis gehandelt wurde und dessen Bücher in unzählige Sprachen übersetzt sind. Auch auf Deutsch liegen seine Gedichte und Essays in vielen Werken vor. Er gelte zurecht als der "Nietzsche der arabischen Welt", so Weidner, nicht allein wegen seiner Ironisierung der religiösen Sprache.

Das Thema "Flucht und Vertreibung" hat sich das Literaturfest als roten Faden ins Programm gewoben. Mit seinen Diskussionsansätzen zum "Brennpunkt Naher Osten" und den "Perspektiven einer europäischen Flüchtlingspolitik" könnte es kaum aktueller und brisanter sein. Der 85-jährige Adonis kam direkt aus Paris, wo er seit dreißig Jahren im Exil lebt. Auch er steht noch unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse. Als Araber, der im Ausland lebt, sei die Situation für ihn doppelt belastend. "Wer in einem europäischen Land lebt, ist bestürzt über die entsetzlichen Ereignisse, und er fühlt sich solidarisch mit dem Volk des Landes, in dem er lebt - für mich ist das Frankreich, Paris. Ich bin Teil dieser Situation."

"Europa hat die Gefahr des Terrors zu spät wahrgenommen"

Aber er analysiert auch: "Was in Paris geschah, ist nichts anderes als die Fortsetzung dessen, was in der arabischen Welt stattfindet." Man müsse kritisch fragen, weshalb Europa die Gefahr des Terrors erst mit so großer Verspätung wahrgenommen habe. "Im Irak zum Beispiel herrscht der Terror seit fünf Jahren, in Syrien und Libyen seit einiger Zeit, und auch im Jemen - es scheint, als wären für Europa die Menschen dort ohne jeden Wert. Jedes Land interessiert sich nur für seine eigenen Bürger."

Adonis lobt die deutsche WillkommenskulturBild: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt

Diesen Standpunkt müssten gerade die europäischen Länder, die durch ihre Kolonialgeschichte politisch und kulturell im Mittleren und Nahen Osten präsent waren, überdenken, ebenso wie ihre Beziehungen zu den Staaten, die den Terror finanzieren und mit Waffen oder anderen Mitteln unterstützten. Deutschland, dessen koloniale Vergangenheit im Nahen Osten keine Rolle gespielt habe, attestiert er dagegen eine bessere Moral, eine "wunderbare Haltung gegenüber den Flüchtlingen", für die er sich bei Bundeskanzlerin Merkel bedankt.

"Wir leben in der arabischen Welt noch im Mittelalter."

Zum Thema Flucht schlägt Adonis einen großen historischen Bogen. Seit 14 Jahrhunderten, seit der Gründung des ersten islamischen Staates, sei es den Arabern trotz ihrer Reichtümer, trotz ihres großen Weltwissens nicht gelungen, einen Rechtsstaat und eine zivilisierte, moderne Gesellschaft zu gründen. "Wir leben in der arabischen Welt noch im Mittelalter." Dies sei eine wesentliche Ursache für Flucht. Europa sei für viele Menschen ein Zufluchtsort, an den sie nicht nur vor Gewalt oder um Arbeit zu finden flöhen. "Sie wollen sich als Menschen fühlen, mit Rechten und Pflichten, sie wollen Freiheiten genießen wie jeder Europäer."

Für einen entschiedenen Laizismus

Adonis, der sein Pseudonym des schönen Jünglings und Wiederauferstehungs-Halbgotts schon mit 17 Jahren annahm, hat sich stets als poetischer Rebell definiert. Zu seinen Kritikern gehören der iranisch-deutsche Schriftsteller Navid Kermani, der sich weigerte, die Laudatio für Adonis bei der inzwischen verschobenen Vergabe des Erich-Maria-Remarque-Preises zu halten. Der aus dem Irak stammende Autor und Journalist Najem Wali, der seit 30 Jahren im Berliner Exil lebt, hat den Dichter und Denker erst jüngst im "Spiegel" scharf kritisiert. Ihnen allen hält Adonis sein klares Credo entgegen: "Ich stehe auf der Seite derjenigen, die gegen Gewalt sind, für Demokratie, für Laizismus."

Adonis-Kritiker: Navid KermaniBild: picture-alliance/dpa

Denn Schuld an Zerstörung und Rückständigkeit sei der Islam als institutionalisierte Religion. "Staat und Religion müssen getrennt werden." Das grundlegende Problem der arabischen Welt sei, dass Religion politisch instrumentalisiert werde, in der Bildung, der Kultur, in Institutionen, in der Rechtsprechung. "Das ist Gewalt, schwere Gewalt gegen Menschen, und das ist inakzeptabel." Und er betont: "Ich bin nicht gegen eine individuell praktizierte Religion, aber gegen jede Religion, die zu einer Institution wird, die sich in meine persönliche Angelegenheiten, in mein Leben, in meine Bildung, in meine Gedanken oder meine Ideen einmischt."

Die Aufgabe der Literatur: Frage, nicht Antwort

Dagegen könne die Dichtung als aufklärerische Kraft wirken. "Wir leben seit 14 Jahrhunderten im Gefängnis des Islam", so seine pessimistische Bilanz, und trotzdem habe kein einziger Dichter in der Geschichte der arabischen Poesie an Gott geglaubt. "Kein einziger Dichter! Das ist ein wahnsinniges Phänomen!" begegnet der Poet zweifelnden Blicken mit allem Nachdruck. Die Poesie und der Sufismus hätten sich in dieser langen Zeit immer gegen Gewalt und gegen die Institutionalisierung der Religion positioniert.

Anders sieht er den Kanon der arabischen Literatur, der er anlastet, niemals Fragen nach dem Sinn des Islam gestellt zu haben. "Die Literatur muss fundamentale Fragen stellen, in der arabischen Literatur werden jedoch keine Fragen gestellt. Literatur ist Frage, und nicht Antwort."

Am Ende des Abends trägt Adonis sein Gedicht "Orient und Okzident" vor. "Die Landkarte hat sich geändert. Nun ist die Welt entflammt, und Orient und Okzident sind ein Grab." Zutreffender und trauriger als mit diesen Versen kann man die Welt in den Zeiten des Terrors wohl kaum beschreiben.

Mehr als 80 Autorinnen und Autoren lesen und diskutieren beim Münchner Literaturfest, das bis zum 6. Dezember stattfindet.

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