Hitler und Hakenkreuze - kein Tabu mehr unter Jugendlichen?
25. Juni 2025
Rechtsextremismus und Rassismus haben sich in der Stadt Dessau im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt in den vergangenen Jahren stark ausgebreitet. "Wir hatten in den letzten fünf bis zehn Jahren so viele Beratungsfälle an Schulen wie noch nie", erzählt Steffen Andersch im Gespräch mit der DW. Er arbeitet für den Verein Projekt GegenPart, einem mobilen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus in Dessau.
Expertinnen und Experten beobachten diesen Trend in vielen deutschen Städten und Regionen - vor allem in Ostdeutschland. Der Chef des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, warnte im Mai 2025 in einem Zeitungsinterview: "Seit etwa einem Jahr sehen wir vermehrt, dass sich sehr junge Menschen mit einer rechten Gesinnung weiter radikalisieren und sich in teilweise gut organisierten Strukturen zusammenschließen, um schwere Straftaten zu begehen."
In Dessau wird die Radikalisierung auch im Stadtbild sichtbar: Hakenkreuze, Hitler-Männchen und Nazi-Parolen - immer wieder tauchen solche Schmierereien auf. "In Teilen ländlicher Regionen im Osten Deutschlands ist 'Nazi' einfach auch Pop geworden", erzählt Lukas Jocher. Auch er arbeitet für Projekt GegenPart. "Und es ist eben cool geworden, diesen Song des US-Rappers Kanye, "Heil Hitler", an die Parkhauswand zu schreiben."
Hass und Hetze - das neue Normal?
Dass Rechts-Sein irgendwie cool ist, bestätigen viele Jugendliche in Dessau der DW. Jeremy ist 17 Jahre alt. Sportliche Kleidung, höflich und groß gewachsen. Wir treffen ihn und zwei jugendliche Begleiterinnen mitten in Dessau. Allem Anschein nach drei ganz normale, durchschnittliche Jugendliche. Wie ist das mit Rechtsextremismus an ihrer Schule? "Hitler wird verherrlicht - aber wie!" erzählen sie und lachen. Der Hitlergruß gehöre an ihrer Schule zum Alltag. Wenn Party gemacht wird, singen sie "Ausländer raus!": "Wir singen einfach mit. Ist egal, was für Musik läuft", lacht Jeremy.
Wie konnte es soweit kommen? Die Spur zur radikalisierten Jugend ist lang. Dessau ist mit seinen rund 75.000 Einwohnern das, was die Deutschen ein "Oberzentrum" nennen: eine Stadt, die mit ihren Einkaufsmöglichkeiten, Krankenhäusern und Museen eine ganze Region versorgt. Fast jeder vierte Deutsche lebt in solchen Städten. Korrekt heißt Dessau nach einer Zusammenlegung mit seiner Nachbarstadt heute Dessau-Roßlau.
Die Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland im Jahr 1990 brachte auch den Dessauern erhebliche Freiheiten - gleichzeitig kam der wirtschaftliche Zusammenbruch. Massenarbeitslosigkeit und eine massive Abwanderung der jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung waren die Folge. Die Stadt schrumpft nach wie vor.
Doch der Staat blieb nicht tatenlos. Er investierte in enormen Ausmaßen. Allein in Dessau wurden seit der Wiedervereinigung Wirtschaft, Infrastruktur und kulturelle Einrichtungen mit rund einer Milliarde Euro gefördert und aufgebaut. Heute ist die Stadt im beschaulichen Bundesland Sachsen-Anhalt herausgeputzt.
Und sie ist UNESCO-Weltkulturerbe mit einem internationalen Ruf. Denn Dessau ist das Zentrum des einflussreichsten Baustils des 20. Jahrhunderts: des Bauhaus.
Bauhaus - das steht für Moderne, für Aufbruch. Für eine bessere und gerechtere Zukunft. Für Humanismus. Vor genau 100 Jahren kam das Bauhaus nach Dessau und prägt die Stadt mit seinen Bauten und Siedlungen bis heute. Fast tausend Studierende aus aller Welt machen die Stadt und ihre Universität zu einem Lehr- und Lernort für die Welt.
Trotz aller Investitionen, Begegnungen und kultureller Ausrufezeichen hat Dessau in den vergangenen Jahrzehnten aber vor allem mit Hass und Gewalt für weltweite Schlagzeilen gesorgt.
Rassistische Gewalt - der Sound von Dessau
Im Jahr 2000 ermorden rechte Jugendliche im Dessauer Stadteil Roßlau den 39-jährigen Alberto Adriano. Sie treten ihn tot. Einfach so. Ohne Anlass. Weil er Schwarz ist. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder ruft nach der Tat die Menschen zu Zivilcourage gegen Rechtsextremismus auf.
Fünf Jahre später, im Jahr 2005, stirbt der Asylbewerber Oury Jalloh in einer Gefängniszelle der Dessauer Polizei. Er verbrennt, gefesselt auf einer Matratze. Viele Spuren sprechen für Fremdverschulden, aber der Fall wird nie aufgeklärt. Auch Oury Jalloh ist Schwarz.
Zehn Jahre später studiert die Chinesin Li Yangjie an der renommierten Architektur-Hochschule in Dessau. Sie steht kurz vor ihrem Master-Abschluss, als sie im Mai 2016 vergewaltigt und ermordet wird. Nach einem stundenlangen Todeskampf wirft der Täter das völlig entstellte Opfer einfach aus dem Fenster: Sebastian F. ist Polizistensohn und wird zwei Jahre später wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Nach der Tat veröffentlicht die chinesische Botschaft in Berlin eine Reisewarnung für Dessau. "Dort sind die Menschen Ausländern gegenüber traditionell feindselig eingestellt." Rassismus, Gewalt und Extremismus - der Sound von Dessau. Und von vielen ostdeutschen Städten.
Bürgermeister mit Neonazi-Vergangenheit
Heute, im Jahr 2025, ist die radikal rechte Partei Alternative für Deutschland, AfD, zweitstärkste Partei in Deutschland - und sogar stärkste in Ostdeutschland. Und in Dessau wurde der rechtsextreme AfD-Politiker Laurens Nothdurft im Juli 2024 zum Ortsbürgermeister im Stadtteil Roßlau gewählt - auch mit den Stimmen anderer Parteien. Als Ortsbürgermeister gratuliert er Jubilaren und trifft an Gedenktagen Schulklassen. Er fühlt sich der Jugend verbunden.
Am 8. Mai 2025 hält er vor Dessauer Schülern eine Rede. Es ist der 80. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. "Kern meiner Rede war, den Blick nach vorn zu richten", schreibt Nothdurft auf Anfrage der DW. "Ganz ausdrücklich in eine positive Zukunft." Von den deutschen Kriegsverbrechen, dem Massenmord an den europäischen Juden sprach er nicht.
Laurens Nothdurft war Ende der 90er Jahre Führungskader der Heimattreuen Deutschen Jugend, HDJ. Im Jahr 2009 wurde sie verboten - unter anderem wegen ihrer Wesensverwandtschaft zum Nationalsozialismus und zur Hitlerjugend. Eigentlich dürfte Nothdurft gar kein AfD-Mitglied sein, weil die Partei offiziell keine Mitglieder mit neonazistischer Vergangenheit aufnimmt. Eine Anfrage der DW dazu beantwortet die AfD-Pressestelle innerhalb von 15 Minuten: "Wir werden uns nicht äußern." Ob er die Werte der neonazistischen HDJ heute noch teile? Diese Frage beantwortet Nothdurft der DW in seinem Schreiben nicht.
Die AfD kann in Sachsen-Anhalt anscheinend weit gehen. Sie wird von den Sicherheitsbehörden im Bundesland als "gesichert rechtsextrem" eingestuft. Bei der Bundestagswahl 2025 kam sie in der Region auf 37 Prozent. Bei den Landtagswahlen 2026 will sie die Regierung übernehmen. Alleine.
"Extremismus rückt immer weiter in die Mitte und wird gesellschaftsfähiger", erzählt Marcus Geiger im DW-Gespräch. Er engagiert sich mit seiner Frau Mandy Münch in der Dessauer Initiative Buntes Roßlau. Angriffe gegen sie gehören zum Alltag: "Wir sind schon auf offener Straße beschimpft worden als 'rote Zecken'. Es wurde auch schon eine Bierflasche durch unser Fenster zuhause geschmissen oder Nägel über das Hoftor geworfen", berichtet Mandy Mück. Und wie reagieren die Nachbarn? "Man hört nichts, man sieht nichts, und da kommt keiner." Und die Angreifer werden jünger, ist der Eindruck von beiden.
Engagierte Zivilgesellschaft
Es gibt viele Vereine und viele mutige Bürgerinnen und Bürger in Dessau, die sich engagieren, die der Menschenfeindlichkeit etwas entgegensetzen wollen: das Projekt GegenPart, Buntes Roßlau, die christlichen Pfadfinder, Lehrerinnen und Lehrer, Privatpersonen, die Universität, Schulen und auch eher konservative Politiker. Und vor allem auch Jugendliche.
Sieben treffen wir im Alternativen Zentrum von Dessau - im AZ. "An manchen Tagen hast Du immer Angst in Dessau", erzählt Sophie. "An bestimmten Feiertagen, wenn viel getrunken wird." Und Max berichtet: "Ich laufe nur in der Umgebung rum, wo ich wohne." Paul Nolte engagiert sich auch im Stadtrat für die Interessen der alternativen Jugendlichen. "Viele von uns haben solche Erfahrungen gemacht. Timm und ich wurden mit dem Messer bedroht."
Dass rechtsextreme Ansichten unter Jüngeren immer verbreiteter werden, bestätigen sie: "Neulich bin ich an meiner alten Grundschule vorbeigegangen", erzählt Sophie. "Da höre ich, wie die Kinder sagen, dass es mal eine reine blutdeutsche Klasse geben müsste."
Die Lage in ihrer Stadt wie auch in Deutschland beobachten sie mit Sorge. Und trotzdem: "Es gibt auch ein positives Szenario. Hier in Dessau zählt jede Person. Man kann auch etwas machen und erreichen." Und die Verbände und Vereine haben sich vernetzt, um sich gemeinsam gegen die Angriffe von rechts außen zu wehren. Trotz aller Anfeindungen und aller Herausforderungen: Wegziehen will keiner von ihnen. Dessau ist ihre Stadt.
Anmerkung: Der richtige Name von Jeremy, 17Jahre, wurde aus Jugendschutzgründen geändert.