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Konflikte

Integriert und trotzdem abgeschoben?

Nina Niebergall
2. Juni 2017

Etwa hundert Afghanen hat Deutschland bislang abgeschoben. Doch wie wird eigentlich entschieden, wer gehen muss? Die Kriterien, die darüber entscheiden, treffen vielerorts auf Unverständnis - und Widerstand.

Freie Waldorfschule Augsburg, Schülerprotest gegen Abschiebung
Bild: Freie Waldorfschule Augsburg

Nur ein halbes Jahr hatte Ali Reza Zeit, um sich in die zehnte Klasse einer Schule im bayerischen Augsburg einzuleben, mit seinen Mitschülern Tischtennis und Volleyball zu spielen und nach dem Unterricht gemeinsam nach Hause zu laufen. Klassenkameraden beschreiben den jungen Afghanen als "sehr beliebt" und "gut integriert". Doch als Ali vor wenigen Wochen 18 wurde, kam ein Brief aus Berlin: Er soll soll abgeschoben werden.

Für Johannes Schmid und Lucas Hein ist das nicht nachvollziehbar. Die beiden Schüler gehen in Alis Klasse. "Er hat sich absolut nichts zu schulden kommen lassen", betont Johannes. Vielmehr absolviere Ali freiwillige Praktika und bemühe sich um eine Berufsausbildung. Für die gesamte Klasse ist deshalb schnell klar: Ali soll bei uns bleiben! Diese Botschaft verbreiten sie über das Internet, verbundenmit einer Petition, die sie dem bayrischen Innenministerium vorlegen wollen. Über 42.000 Menschen haben bereits unterschrieben.

Alleine nach Europa

Im Interview mit der DW erzählen Johannes und Lucas die Geschichte ihres afghanischen Mitschülers: Im Herbst vergangenen Jahres kommt Ali in Augsburg an - alleine, denn seine Eltern sind im Iran geblieben. Dort lebte die Familie bereits seit vielen Jahren. Doch für den damals 16-jährigen ist Bleiben keine Option. Denn die iranische Polizei hat ihn aufgegriffen und gedroht, ihn auszuweisen, sollte er nicht nach Syrien in den Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) ziehen. Ihm bleibt nur die Flucht nach Europa.

Anschlag mit über 80 Toten: wie sicher ist Afghanistan?Bild: Getty Images/AFP/S. Marai

Nun soll Ali zurück nach Afghanistan, in ein Land, in dem er keine Familie hat, und wo eine ungewisse Zukunft auf ihn wartet. Die Lage in Afghanistan gilt inzwischen als so unsicher, dass die Bundesregierung Abschiebungen dorthin zuletzt aussetzte. Anlass war ein Anschlag, bei dem vor wenigen Tagen über 80 Menschen getötet wurden. Sowohl die radikalislamischen Taliban als auch der IS terrorisieren die Menschen in weiten Teilen des Landes.

Aus dem Unterricht nach Afghanistan 

Und dennoch sollte auch der 21-jährige Berufsschüler Asef N. abgeschoben werden. Sein Fall hatte am Mittwoch für Aufsehen gesorgt, als die Nürnberger Polizei den jungen Mann während des laufenden Unterrichts festnehmen wollte, um ihn noch am Abend in ein Flugzeug nach Afghanistan zu setzen. Seine Mitschüler versuchten die Festnahme zu verhindern, es kam zu Ausschreitungen. Asef hatte bereits eine Ausbildung als Schreiner sicher, lernte an der Berufsschule gerade das nötige Fachwissen. Das Bild des gut integrierten jungen Mannes geriet erst bei seiner Festnahme ins Wanken. Da soll er einem Polizeibeamten zufolge mit Rache gedroht haben.

Dass Deutschland in ein Land abschiebt, in dem die Sicherheitslage derart ungewiss ist, stößt bei Aktivisten und bei Politikern von Linkspartei und Grünen seit langem auf Kritik. Prinzipiell bleibt Berlin jedoch dabei: Afghanen, die nicht asylberechtigt sind, sollen ausreisen. Seit Dezember hat es bereits 106 alleinstehende Männer getroffen. Auf diese Zielgruppe hatten sich alle Bundesländer verständigt

Darüber hinaus entscheidet jedes der 16 Bundesländer selbst, wer ausreisen muss und wer nicht - und welche Kriterien sie für diese Entscheidung anlegen. "Schon bei der Frage, ob die Männer bei ihrer Abschiebung gesund sein müssen, gehen die Meinungen auseinander", erklärt Heiko Habbe, Anwalt für Asylrecht und Mitarbeiter der Hamburger Beratungsstelle "Fluchtpunkt". Er berichtet von einem psychisch kranken Mann, der aus Bayern abgeschoben wurde. Auch aus Baden-Württemberg und Hamburg sind Fälle bekannt, in denen die Betroffenen trotz schwerer psychischer Erkrankungen abgeschoben werden sollten - und nur von ihren Anwälten davor bewahrt wurden. 

Ausnahmefall Bayern

"Stop Deportation": Aktivisten protestieren am Münchner Flughafen gegen die Abschiebung von AfghanenBild: picture alliance/dpa/M. Balk

In den vergangenen Monaten sind die meisten Bundesländer jedoch dazu übergegangen, hauptsächlich straffällig gewordene Afghanen abzuschieben. Schleswig Holstein hatte sich im Februar sogar offen gegen die Berliner Politik gestellt und Abschiebungen gänzlich ausgesetzt. Anders sieht es im Süden Deutschlands aus: "Im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern weist Bayern nicht nur Straftäter aus, sondern auch kranke oder seit mehreren Jahren gut integrierte Leute", sagt Stephan Dünnwald vom Bayerischen Flüchtlingsrat. 

Selbst ein Gesetz, nach dem Auszubildende Anspruch auf eine Duldung haben, legt der Freistaat äußerst restriktiv aus, umging es laut Bayrischem Flüchtlingsrat sogar in mindestens einem Fall. Flüchtlingsorganisationen berichten von völlig undifferenzierten Entscheidungen darüber, wer abgeschoben wird und wer nicht.

Dabei fordern selbst bayrische Wirtschaftsvertreter die Münchner Regierung auf, afghanische Schüler eine Ausbildung absolvieren zu lassen. Sie weisen auf mehrere hundert Stellen hin, die andernfalls unbesetzt blieben. Gleichzeitig reisen viele Afghanen freiwillig aus. Im vergangenen Jahr kehrten 3300 Menschen freiwillig in ihre Heimat zurück.

Asylpolitik in Wahlkampfzeiten

Wieso also schiebt die bayerische Landesregierung ausgerechnet arbeitswillige junge Männer ab - und das auch noch mit allen Mitteln? "Es geht nicht um den einzelnen Afghanen, sondern darum, Härte zu zeigen", meint Rechtsanwalt Habbe. Das sei eine rein politische Entscheidung. Um sich beim Wähler anzubiedern, nehme München selbst solche Szenen wie die in Nürnberg in Kauf. Den Effekt einer ähnlichen, wenn auch weniger restriktiven Politik beobachtet Habbe auch unter Afghanen in Hamburg: "Die Leute haben eine ungeheure Angst davor, dass sie abgeschoben werden. Und diese Ängste werden geschürt."

"Die Tragik ist, das am Ende derjenige abgeschoben wird, der am leichtesten abzuschieben war, und der nach den Regeln gespielt hat", sagt Habbe. So war es wohl auch bei dem Nürnberger Berufsschüler Asef. Sobald er den Behörden einen gültigen Pass zeigen konnte, sollte er abgeschoben werden. 

Und Ali? Seine Mitschüler Johannes und Lucas hoffen, dass ihre Petition bald die Marke von 50.000 Unterstützern durchbricht. Dann wollen sie erst die zuständigen Münchner Politiker, dann deren Kollegen in Berlin damit konfrontieren. Sie wollen dazu beitragen, dass sich die deutsche Flüchtlingspolitik grundlegend ändert.

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