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PolitikAsien

Afghanische Ortskräfte bangen um ihr Leben

Naomi Conrad | Birgitta Schülke | Nina Werkhäuser
18. August 2021

Mit einer Luftbrücke bringt die Bundeswehr Menschen aus Afghanistan. Viele afghanische Ortskräfte sitzen aber weiter in Kabul fest. Die DW hat mit einigen gesprochen.

Konflikt in Afghanistan | Kabul
Taliban-Kämpfer patrouillieren im Stadtteil Wazir Akbar Khan in KabulBild: Rahmat Gul/AP Photo/picture alliance

In einem überfüllten Keller in Kabul bereiteten sich Anfang der Woche sieben Männer verzweifelt auf den Ernstfall vor: Dass die Taliban sie finden würden. Sie inszenierten Rollenspiele: Einer von ihnen gab sich als Talib aus, die anderen mussten ihn davon überzeugen, dass sie Studenten sind. Studenten und keine Männer, die in den letzten Jahren für die Bundeswehr gearbeitet haben.

"Wir haben unsere Rollen geübt: Wir studieren dies, wir studieren dort", erklärte einer der Männer der Deutschen Welle am Telefon. Die erfundene Identität sollte ihnen in Fleisch und Blut übergehen. "Wir versuchen, uns selbst zu retten."

Angst vor den Taliban

Als die Taliban vorrückten, tauchten unzählige Männer, Frauen und ihre Familien unter - aus Angst um ihr Leben. Darunter Dolmetscher, Köche und Fahrer, die für ausländische Truppen oder Hilfsorganisationen gearbeitet hatten. "Ich glaube, sie suchen nach mir", sagte der Mann, der die Rolle des Studenten eingeübt hat. Aus Sicherheitsgründen will er anonym bleiben, aber soviel verrät er: Er sei nach Kabul geflohen und dort untergetaucht. Seiner Familie und Freunden habe er zuvor aufgetragen, alle Fotos und Dokumente zu vernichten, die sie mit ihm in Verbindung bringen könnten.

Seit Kabul am Wochenende von den Taliban eingenommen wurde, bringen ausländische Regierungen ihre Staatsangehörigen außer Landes. Ausländer werden von den Taliban zum Flughafen durchgelassen. Anders ergeht es afghanischen Staatsbürgern: Nach Einschätzung der Bundesregierung ist es für sie schwierig, zum Flughafen durchzukommen. Zeitweise hätten die Taliban Sicherungsposten rings um den Flughafen eingerichtet und dort nur ausländische Staatsangehörige durchgelassen, hatte ein deutscher General die Lage am Dienstag geschildert. Bundeswehr-Soldaten sichern inzwischen am Kabuler Flughafen den Weg der Passagiere zu den Maschinen.  

Warten auf den rettenden Anruf

Doch das nützt vielen afghanischen Ortskräften bisher wenig: Leben sie außerhalb von Kabul, haben sie derzeit kaum eine Chance, die Hauptstadt zu erreichen. Auch in Kabul sitzen viele von ihnen weiter fest. Sie warten auf den rettenden Anruf, dass sie auf einer der Listen für die Evakuierungsflüge stehen. Und selbst dann ist der Weg zum Flughafen ein Risiko.  Das erste Transportflugzeug der Bundeswehr, das Kabul am Montag Abend erreichte, konnte wegen der "chaotischen Situation" am Flughafen nur sieben Passagiere ausfliegen. Am Dienstag brachte ein zweites Flugzeug 125 Menschen nach Usbekistan.

Eine Menschenmenge auf der Landebahn des Kabuler Flughafens: Satellitenbild von MontagBild: Satellite image ©2021 Maxar Technologies

Inzwischen hat die Bundeswehr eine Luftbrücke eingerichtet und lässt ihre Flugzeuge zwischen Taschkent und Kabul pendeln. Von Taschkent aus fliegt die Lufthansa die Passagiere dann weiter nach Deutschland. "Wir nehmen alles mit, was vom Platz her irgendwie in unsere Flugzeuge passt", betonte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, natürlich auch Afghanen. 

Ausharren im Versteck

In Kabul bleibt die Lage jedoch weiter unübersichtlich. Die DW erreichte einen Mann, der fast 20 Jahre für die Deutschen gearbeitet hat, auch für die Bundeswehr. Er versteckt sich mit seiner Frau und zwei Kindern in einem Keller. Sein Name steht auf einer Liste des deutschen Außenministeriums. 

Tagelang wartete er auf seine Einladung zum Flughafen. "Sie haben uns gesagt, dass wir uns selbst auf den Weg dorthin machen müssen." Voller Angst hatte er immer wieder gegrübelt, wie er mit seiner Familie zum Flughafen fahren sollte: ob er ein Taxi nehmen oder einen guten Freund bitten sollte.

Laut einigen DW-Quellen in Kabul kontrollieren die Taliban die Wege zum Flughafen scharf. Bild: Rahmat Gul/AP Photo/picture alliance

Dann endlich kam am Mittwoch der lang ersehnte Anruf der Deutschen. Die DW erreichte ihn am Flughafen. "Der Weg dorthin war der Horror. Die Taliban haben uns zwei Mal angehalten, dann aber weiterfahren lassen."  

Nicht alle sind auf der Liste

Viele haben es jedoch gar nicht auf die rettende Liste geschafft, obwohl sie für deutsche Ministerien oder staatliche Organisationen gearbeitet haben. Die deutschen Behörden hätten Visaanträge bürokratisch und langsam bearbeitet, monieren Kritiker. Die Antragsteller, so berichteten Betroffene der DW, mussten den gefährlichen Weg nach Kabul auf sich nehmen, um ihre Anträge abzugeben. Ein Büro in Masar-e-Sharif, das ebenfalls Visa-Anträge bearbeiten sollte, wurde - anscheinend aus Sicherheitsgründen - nie geöffnet.

Hinzu kam, dass anscheinend nur diejenigen, die direkt bei der Armee oder staatlichen Organisationen beschäftigt waren, Anspruch auf ein Visum hatten. Für diejenigen, die im Dienst von Subunternehmern gestanden hatten, war das schwieriger. Die schleppende Bearbeitung der Visa rächt sich nun. Bundesaußenminister Heiko Maas räumte ein, die Regierung, die Geheimdienste und die internationale Gemeinschaft hätten "die Lage falsch eingeschätzt" und das rasche Vorrücken der Taliban auf Kabul nicht vorausgesehen. "Da gibt es nichts zu beschönigen."

Dank von der Bundeswehr, aber kein Visum

Keiner der Männer, die sich den Taliban als Studenten präsentieren wollen, hat es auf die deutsche Evakuierungsliste geschafft. Er habe immer wieder versucht, die Bundeswehr telefonisch zu erreichen, erzählte einer der Männer der DW – und erreichte lediglich einen Anrufbeantworter. "Niemand hat uns eine E-Mail geschickt, niemand hat uns kontaktiert." Er zeigte der DW Kopien von Empfehlungsschreiben, die er erhalten hatte, sogar eine unterschriebene "Dankesurkunde" für seine herausragenden Dienste für die deutschen Truppen an deren ehemaligem Stützpunkt in Masar-e-Sharif. Dennoch, erzählte er mit leiser Stimme, habe er nie eine Antwort erhalten. "Wir arbeiteten zusammen wie Freunde. Wenn sie unsere Hilfe brauchten, haben wir ihnen geholfen." Jetzt aber sei den Afghanen gesagt worden, sie müssten warten - und sie könnten auch kein Visum für ein Drittland beantragen.

Der zweite Bundeswehr-Flug brachte 125 Menschen aus Kabul in SicherheitBild: Bundeswehr

"Sie haben die Sache immer weiter hinausgezögert, wir haben Monate verloren", sagte er der DW. In dieser Zeit hätten sie sich eine Alternative überlegen oder in ein anders Land flüchten können. Er fühle sich im Stich gelassen und sei wütend – und sehr verängstigt. Er überlege, ob er die Dokumente vernichten solle, die belegen, dass er für die Bundeswehr gearbeitet hat, damit die Taliban sie nicht finden. Aber dann hätte er Angst, den Deutschen nicht beweisen zu können, wer er war.

Taliban: "Wir wollen keine Rache"

Am Dienstag hatte ein Taliban-Sprecher erklärt, die Gruppe werde keine Rache an Afghanen üben, die für ausländische Staaten gearbeitet haben. Dem widersprechen Berichte und Gerüchte aus Kabul, wonach die Taliban nach den Häusern von Ortskräften suchten, die mit ausländischen Regierungen und Organisationen zusammengearbeitet haben – einschließlich der Häuser von drei lokalen Mitarbeitern der DW. Keiner der Afghanen, die die DW kontaktiert hat, glaubte den Zusicherungen der Taliban. "Das haben sie auch früher gesagt und am nächsten Tag das Gegenteil gemacht", sagte einer von ihnen. Die Situation sei quälend. Seine Kinder hätten Angst, dass die Taliban ihren Vater töten würden. "Die verstehen alles."  

"Ich habe nichts Falsches gemacht", sagte er der DW aus seinem Versteck. "Wir haben nur zusammengearbeitet, für Afghanistan, wir wollten, dass das Land sich entwickelt. Dafür braucht es auch Berater und Übersetzer." Er habe niemandem geschadet. "Ich weiß nicht, warum die Taliban gegen uns sind." 

Mitarbeit: Birgitta Schülke und Masood Saifullah

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