Afghanistan: Appell an alle Verantwortlichen
28. November 2007Schon früher wollte ich diesen Brief schreiben, doch meine Bedenken, die Leute könnten mich für zu hoffnungslos und pessimistisch halten, haben mich zurückgehalten. Aber jetzt denke ich, ist es höchste Zeit, meine Beobachtungen öffentlich zu machen – bevor es zu spät ist. Ein Teil dessen, was ich in diesem Schreiben kundtun möchte, habe ich bei verschiedenen Anlässen afghanischen und ausländischen Politikern mitgeteilt; doch nun etwas ausführlicher.
Auch ich bin der Überzeugung, dass wir in den vergangenen Jahren beachtliche Fortschritte auf politischem, gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet erzielt haben. Allein die Tatsache, dass ich im heutigen Kabul ohne Angst zu haben, meine Meinung sagen, schreiben und veröffentlichen kann, zeigt deutlich, dass wir in diesem Land weitergekommen sind. Aber ich bin genau so davon überzeugt, dass unser Erfolg bei weitem größer gewesen wäre, wenn wir bessere Konzepte zum Wiederaufbau unseres Landes gehabt hätten.
Dieser Brief richtet sich an die Adresse des Präsidenten Haimd Karzai und seine Regierungsmannschaft, an die Mitglieder des afghanischen Parlaments, an die Vertreter der Presse, an Führer der oppositionellen Parteien, ebenso an Vertreter ausländischer Regierungen und Armeen sowie an internationale Organisationen.
Zunächst möchte ich einige Fragen stellen und auf einige traurige Fakten hinweisen:
1. Verehrte Damen und Herren, wie fühlen Sie sich, wenn Sie in Ihren neuen Autos über die holprigen und mit Schlaglöchern übersäten Straßen von Kabul fahren? Und das, nachdem sechs Jahre Wiederaufbau Afghanistans hinter uns liegen und Milliarden Dollar dafür ausgegeben worden sind. Kommt es Ihnen richtig vor, dass ein Land, das von mindestens 40 Ländern dieser Welt unterstützt wird, eine Hauptstadt in diesem miserablen Zustand hat? Das Beispiel Kabul zeigt deutlich, wie erfolgreich der Wiederaufbau in diesem Land gewesen ist. Daraus kann man schließen, dass die Gelder, die für den Wiederaufbau bestimmt waren, zum größten Teil nur in wenige Taschen gewandert sind. Einer der Gründe für diese Entwicklung liegt darin, dass es von Anfang an kein klares Konzept für den Wiederaufbau Afghanistans gegeben hat, was die Aufgabe der afghanischen Regierung und ihrer ausländischen Helfern gewesen wäre.
2. Afghanistan hat in diesem Jahr einen neuen Rekord aufgestellt, was die Produktion von Drogen angeht. Was das für das Ansehen Afghanistans und seine ausländischen Helfer bedeutet, brauche ich wohl nicht näher zu erläutern. Wer auch immer vom Drogenanbau in Afghanistan profitiert, den Preis werden wir alle auf der ganzen Welt zahlen.
3. Die Taliban, die vor sechs Jahren in wenigen Wochen besiegt worden waren, kehren nun zurück. Sie stehen vor den Toren Kabuls. In den benachbarten Provinzen zu der Hauptstadt wie Wardak, Logar, Sorobi oder Kapisa sind die Taliban und ihre Verbündeten höchst aktiv. Ihr Einfluss in den Provinzen im Süden und Osten des Landes ist um einiges größer.
4. Die Kluft zwischen der Bevölkerung und der Regierung wird von Tag zu Tag größer. Die Menschen haben vielerorts kein Vertrauen mehr zu den staatlichen Institutionen und den Regierungsvertretern. Die enorme Korruption zwingt die Menschen förmlich in die Arme der Regierungsgegner.
5. Unsere Regierung zeichnet sich im Moment besonders durch ihre eigene Unfähigkeit aus. Sie ist nicht in der Lage, aus den Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen und neue Konzepte für die Lösung der vorhandenen Probleme zu entwickeln. Für diesen Zustand sind die Machthaber in Kabul und ihre ausländischen Helfer gleichermaßen verantwortlich.
Falls ich nun alle Probleme, die im Moment in unserem Land existieren, aufzählen sollte, so müsste ich ein Buch schreiben. Doch hier möchte ich zusammenfassend darauf hinweisen, dass eine sehr große, gefährliche und unmittelbare Gefahr uns alle bedroht. Wir alle haben die Pflicht, unser Möglichstes zu tun, damit diese Gefahr beseitigt wird.
Von einem Erfolg des Friedensprozesses in Afghanistan werden alle Seiten profitieren. Die Afghanen vielleicht am meisten, weil ihr Land endlich Frieden, politische Stabilität und gewissen Wohlstand erreichen wird. Doch auch alle anderen Länder, die seit einigen Jahren, aus welchen Gründen auch immer. in Afghanistan investieren, werden auf der Gewinner-Seite stehen. Nicht zuletzt deswegen, weil Terrorismus, Radikalität und Drogenanbau in diesem Teil der Welt ein Ende gemacht worden ist.
Doch falls wir den Kampf in Afghanistan verlieren sollten, so werden wir alles verlieren. Die Afghanen werden vielleicht weniger zu verlieren haben, weil ihnen ja nicht viel geblieben ist. Krieg und Vertreibung gehört seit drei Jahrzehnten zu ihrem Alltag. Im Westen wird es zunächst Meldungen geben, die von Massakern an Zivilbevölkerung in Afghanistan berichten. Doch bald, wenn Afghanistan wieder zum Zentrum des Terrorismus geworden ist, wird die Gefahr überall auf der Welt spürbar werden. Die Menschen in den wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der Welt werden dann viel zu verlieren haben.
Nun möchte ich allen, die ich eingangs als Adressaten dieses Schreibens genannt habe, folgende Frage stellen: Wollen Sie alle den Erfolg des Friedensprozesses in Afghanistan oder wollen Sie ihn nicht?
Falls Sie sich für ein Nichtgelingen des Friedensprozesses entscheiden, so können wir uns alle genau ausmalen, was auf uns zu kommen wird. Aber wenn wir uns für den ersten Weg entscheiden wollen, so müssen wir wissen, dass wir viel Arbeit vor uns haben. Falls wir jetzt nicht ernsthaft damit anfangen, so wird es in einem oder spätestens zwei Jahren viel zu spät sein. Was genau zu tun ist, kann vielleicht keiner sagen. Doch wir müssen uns alle zusammensetzen und endlich Wege aus dieser Krise suchen. Eine Krise, die bald keine afghanische oder zentralasiatische allein mehr sein wird.
Mit freundlichen Grüßen
Fahim Dashti
Chefredakteur des Wochenmagazins "Kabul Weekly"