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Was lief schief in Afghanistan?

6. Juli 2022

Der Bundestag will klären, warum der Afghanistan-Einsatz gescheitert ist und die radikalislamischen Taliban das Land am Hindukusch zurückerobern konnten. Es geht um mehr als den chaotischen Abzug der Bundeswehr.

Soldaten mit Rücksäcken und Maschinengewehren verlassen ein Transportflugzeug der Bundeswehr
Mit einer Luftbrücke evakuierte die Bundeswehr im August 2021 Soldaten und ziviles Personal aus AfghanistanBild: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa/picture alliance

"Das ist eine Katastrophe, die medial kaum beachtet wird", sagt Ralf Stegner im Juni während einer Bundestagsdebatte über die Lage in Afghanistan. Damit meint der Sozialdemokrat die Hungersnot in dem wirtschaftlich ruinierten Land. Aber die meiste Zeit seiner Rede widmet er dem chaotischen Ende des Bundeswehr-Einsatzes im August 2021. Dieses Debakel soll nun in einem von Stegner geleiteten Untersuchungsausschuss unter die Lupe genommen werden.

Stegner stellt im Bundestag die zentrale Frage, mit der sich das Gremium beschäftigen wird: "Wie kam es zu der fragwürdigen Lageeinschätzung, zur blitzschnellen Machtübernahme der Taliban und dem hastigen Abzug aus Afghanistan?" Verschätzt hat sich offenbar vor allem der für das Ausland zuständige Bundesnachrichtendienst (BND). Dass es den radikalen Islamisten gelingen könnte, innerhalb weniger Tage die regulären afghanischen Truppen in die Flucht zu schlagen und mit ihnen die Regierung, hatte der BND jedenfalls nicht auf dem Schirm.

Enquête-Kommission blickt auf den gesamten Afghanistan-Einsatz

Stegner hält es für richtig, nur die beiden letzten Jahre des 2001 begonnenen Engagements am Hindukusch in den Blick zu nehmen. Wer eine Untersuchung des gesamten Afghanistan-Einsatzes fordere, verkenne, "dass zwar manches schiefgegangen ist in 20 Jahren, aber ein solcher Zeitraum unmöglich von einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden könnte". Darum soll sich eine zeitgleich tagende Enquête-Kommission kümmern.

Rückschlag für Frauen in Afghanistan: TV-Journalistinnen müssen auf Anordnung der Taliban wieder ihr Gesicht verschleiernBild: Wakil Kohsar/AFP/Getty Images

Ähnlich sieht das Thorsten Gromes vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). "Wie ist es dazu gekommen, die Lage absolut zu verkennen?", fragt auch er im DW-Interview. Spannend findet der Politologe, dass der Afghanistan-Einsatz in Deutschland von unterschiedlichsten Regierungsbündnissen gestützt worden sei, "die alle irgendwie einen Teil der Verantwortung tragen". Das könne eine Chance sein, sich dem zu stellen, aber auch dazu führen, "vor allem die eigenen Entscheidungen und eigenen Leute zu verteidigen".

Muss sich die Linke für ihre Außenpolitik rechtfertigen?

Bei der oppositionellen Linken rechnet Gromes damit, dass sie sich stärker denn je auf ihre ablehnende Haltung zum Afghanistan-Einsatz zurückziehen werde, "gerade weil sie unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs in der Außenpolitik umso mehr unter Druck steht, sich rechtfertigen zu müssen".

Friedens- und Konfliktforscher Thorsten Gromes: "Wie ist es dazu gekommen, die Lage absolut zu verkennen?"Bild: HSFK

Hintergrund ist die Vielstimmigkeit innerhalb der Linken, wenn es um die Rolle des russischen Präsidenten Wladimir Putin und der NATO geht. Die Partei durchlaufe einen Klärungsprozess, da sei die Afghanistan-Frage eine Gelegenheit zur Selbstvergewisserung: "Wir hatten da immer recht, wir müssen nicht alles ändern."

59 Bundeswehr-Soldaten starben in Afghanistan

So ähnlich klingt die Außenpolitik-Expertin der Linken, Sevim Dağdelen, als sie im Bundestag über Afghanistan spricht. Nicht der chaotische Abzug sei der Grundfehler gewesen, "das waren die 20 Jahre Krieg". Die Linke, betont Dağdelen, sei von Anfang an dagegen gewesen.

Den gemeinsamen Untersuchungsauftrag der Regierungsfraktionen von SPD, Grünen und FDP sowie der oppositionellen Konservativen (CDU/CSU) hält sie für ein Ablenkungsmanöver. "Was sie auf keinen Fall wollen, ist eine umfassende Aufarbeitung ihrer Beteiligung am Krieg in Afghanistan", sagt Dağdelen. Sie verweist auf rund 200.000 Tote, darunter 59 Soldaten der Bundeswehr, "die ihr Leben in diesem sinnlosen Abenteuer verloren haben".

Wann werden Auslandseinsätze als Okkupation wahrgenommen?

Untersuchungsausschuss-Chef Ralf Stegner will hingegen wissen, "ob und unter welchen Bedingungen es ein legitimes Ziel von Auslandseinsätzen sein kann, eine Gesellschaft in unserem Sinne umkrempeln zu wollen beziehungsweise einen Regime-Wechsel anzustreben".

Ähnliche Gedanken zur Untersuchung hat der Wissenschaftler Jan Koehler, der Afghanistan durch zahlreiche Reisen seit 2003 sehr gut kennt.

Im DW-Interview nennt er die Frage, "wann eine militärische Intervention als Okkupation wahrgenommen wird?" Er fragt auch, ob sich die Sicherheitslage durch militärische Präsenz über einen so langen Zeitraum aus der lokalen Perspektive eher verbessere oder verschlechtere. Dabei sei es wichtig, sich die Chancen und Risiken anzuschauen, die sich zu verschiedenen Zeitpunkten geboten hätten.

Militärisches, ziviles und diplomatisches Engagement

Von einem "Scherbenhaufen" will der in London und Osnabrück tätige Politologe nicht sprechen. Man könne aber auch nicht einfach sagen, nach 20 Jahren des militärischen, zivilen und diplomatischen Engagements habe sich viel zum Positiven bewegt. Die Wahrheit liege irgendwo dazwischen. "Es ist ganz schwierig, so etwas historisch abschließend zu bewerten", betont Koehler.

Sinnvoll wäre, einzelne Entwicklungen zu betrachten: Entstanden die aus den verschiedenen Landesteilen und Bevölkerungsgruppen selbst oder zum Beispiel aufgrund von Loyalitätsverpflichtungen gegenüber den Amerikanern?

Chance verpasst, die Taliban rechtzeitig einzubinden?

Um diese und andere Fragen zu beantworten, kehrt Jan Koehler gedanklich zu den Anfängen der internationalen Militär-Intervention zurück. Damals, 2001, wurde auf der internationalen Petersberg-Konferenz nach Lösungen für eine friedliche Lösung in Afghanistan gesucht. Und - wie sich 20 Jahre später auf dramatische Weise zeigte - nicht gefunden.

Auch die zweite Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn war 2011 von Protesten begleitetBild: DANIEL ROLAND/AFP

Im Rahmen des Petersberg-Prozesses habe man die Taliban außen vor gelassen, sagt Koehler. Stattdessen seien andere Akteure gesucht worden, "von denen man glaubte, dass sie reale Macht hatten". Das hält er rückblickend für einen Fehler. Denn man habe in den ersten drei Jahren nach der Militär-Intervention die Möglichkeit verpasst, "die Taliban aus einer Situation der politischen Schwäche heraus einzubinden". Danach seien sie wieder erstarkt.

Donald Trump schwächte die afghanische Regierung

Ein anderes Ende der internationalen Afghanistan-Mission wäre nach Koehlers Überzeugung trotz aller Fehler möglich gewesen. "Fatal" sei das vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump 2020 mit den Taliban - an der afghanischen Regierung vorbei - geschlossene Abkommen über den Truppenabzug gewesen. Damit habe er die Regierung unter Ashraf Ghani "massiv geschwächt".

15.08.2021: Taliban-Kämpfer posieren nach der Flucht des afghanischen Regierungschefs Ashraf Ghani in dessen Palast Bild: Zabi Karimi/AP Photo/picture alliance

Das sei die letzte Weiche gewesen, die man anders hätte stellen können, sagt der langjährige Afghanistan-Kenner. Danach sei ein Friedensprozess zwischen der Regierung und den Taliban nicht mehr möglich gewesen. "Der plötzliche Zusammenbruch der Regierung und Ghanis Flucht zerstörten dann die letzte Chance auf eine von den gemäßigteren Kräften unter den Taliban erwünschte geordnete Machtübernahme", bilanziert Koehler.

Keine "deutsche Nabelschau"

Friedens- und Konfliktforscher Thorsten Gromes wünscht sich, dass sowohl der Untersuchungsausschuss als auch die Enquête-Kommission "ergebnisoffen" diskutieren. Es gehe darum, Lehren zu ziehen für bessere Entscheidungen in der Zukunft. Das setze voraus, keine "deutsche Nabelschau" zu betreiben. Denn die Einsätze seien eingebettet in einen internationalen Rahmen.

Gedenkakt für Afghanistan-Einsatz

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Für den Afghanistan-Einsatz bedeutet das nach Gromes' Ansicht, ihn nicht isoliert zu betrachten, sondern vergleichend. Die politische Debatte neige oft dazu, von einem Extrem ins andere zu fallen. Das könne dazu zu führen, Afghanistan als "absoluten Einzelfall" zu bezeichnen, aus dem man nicht viel lernen könne, oder zu behaupten, "Afghanistan ist überall und steht für alle Auslandseinsätze". Beide Positionen seien falsch.

Zwischen Demokratie und Regime-Change

Man müsse konkretisieren, etwa beim Thema Demokratie und Menschenrechte. Thorsten Gromes findet den Kontext wichtig: Geht es um Einsätze nach Bürgerkriegen oder während noch tobender Konflikte? "Ist es verbunden mit einem Regime-Change oder nicht?" Da gebe es viele Faktoren zu beachten, sagt der Politologe.

Ob der Afghanistan-Untersuchungsausschuss und die Enquête-Kommission seine Hoffnungen erfüllen werden, wird sich spätestens 2025 zeigen. Dann endet die Legislaturperiode und beide Gremien müssen ihre Abschlussberichte vorlegen. Mit der Aufarbeitung wollen sie nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause in Deutschland im September beginnen. Die Sitzungen werden in der Regel öffentlich stattfinden.

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland
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